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der ´namenlose´ Hund
ein Hundemafiathriller aus Italien
Inhaltsverzeichnis
Prolog – Der Schatten unter der Sonne
Epilog – Ein Blick zurück, ein Weg nach vorn
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Prolog – Der Schatten unter der Sonne
Italien. Ein Land, das man mit Sonne, Wein und endlosen Landschaften verbindet. Mit Olivenhainen, alten Steinhäusern und dem Duft nach Lavendel im Wind. Ein Ort, an dem man das Leben feiert – so sagt man. Doch nicht überall.
Es gibt Straßen, die auf keiner Touristenkarte verzeichnet sind. Schotterpisten, die sich durch karge Felder schlängeln, vorbei an Ruinen und verrosteten Zäunen. Dort, wo niemand mehr hinsieht, beginnt eine andere Welt. Eine Welt, in der Leben keinen Namen trägt. In der Stille nicht Frieden bedeutet – sondern Aufgabe.
In dieser Welt stand ein Hund auf dem Asphalt. Groß, kräftig, blutend. Sein Blick war leer, sein Körper voller Narben. Er hatte keinen Namen, keine Vergangenheit, kein Zuhause. Nur den Moment, in dem ein Scheinwerferkegel ihn traf – und ein Wagen bremste.
Diese eine Entscheidung – nicht weiterzufahren. Nicht wegzusehen. Sie war der Auslöser. Nicht für ein Märchen. Sondern für einen Kampf.
Denn wer diesen Schatten berührt, ruft etwas hervor. Wer das System hinter dem Hund sieht, beginnt etwas zu entblößen, das tief reicht. Tiefer als Politik, tiefer als Macht. Es ist ein Geflecht aus Angst, Geld und Gewalt. Einer Welt, die lebt, weil andere schweigen.
Doch was, wenn jemand beginnt, Fragen zu stellen? Wenn jemand Namen sucht, wo andere nur Nummern sehen? Wenn ein einziger Hund zum Schlüssel wird – zu etwas, das nie hätte ans Licht kommen sollen?
Dies ist die Geschichte eines Hundes, der keinen Namen hatte. Und der für viele zu einem Zeichen wurde.
Ein Zeichen, dass die Hoffnung nicht stirbt – selbst dort, wo sie niemand mehr erwartet.
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Über den Autor
Lutz K., der unter dem Pseudonym L.K.B.v.A. schreibt, ist selbst seit vielen Jahren aktiver Tierschützer. Im Jahr 2012 war er Mitbegründer des Vereins pro-canalba, der sich dem Schutz und der Vermittlung von Hunden aus Italien verschrieben hat. Das im Kurzroman beschriebene Tierheim gehört inzwischen dem Verein und ist Dreh- und Angelpunkt der Tierschutzarbeit in Italien. Der ´sichere Hafen´ – früher das ´Dog Village´.
Alle sechs Wochen rollen die vier Transporter vom Hof, um adoptierten Hunden eine neue Zukunft in Deutschland, Österreich, der Schweiz und den Niederlanden zu ermöglichen. Zwei der im Buch genannten Lager haben verstanden – sie arbeiten heute eng mit pro-canalba zusammen, ebenso wie mehrere kleinere, privat geführte Tierheime. Ein Hoffnungsschimmer im System.
Die Arbeit ist eine ehrenamtliche Mammutaufgabe. Sie wird getragen von unzähligen engagierten Menschen: Teams für Vorbesuche, Pflegestellenkoordination, Vermittlerinnen, Pflege von öffentlichen Hundeportalen, das Anrufteam während der Transporte, Helfer am Hof und Vereinssitz, die, die Hundetexte schreiben, die HappyEnd Betreuung – und viele mehr. Ohne sie wäre das alles nicht möglich.
Dieses Buch ist allen namenlosen Hunden gewidmet.
Und all den fleißigen, ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern, die jeden Tag aufs Neue kämpfen. Für ein Leben. Für Hoffnung. Für Sichtbarkeit.
Aufgeben ist keine Option.
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Kapitel 1 – Die Straße im Nirgendwo
Der Mond hing wie eine silberne Sichel über der italienischen Landschaft. Die gewundenen Straßen führten durch sanfte Hügel, an Olivenhainen und alten Bauernhäusern vorbei. Die Nacht war still, bis auf das gelegentliche Zirpen der Grillen und das entfernte Bellen eines Hundes.
Clara Wagner strich sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht, während sie konzentriert die schmale Straße entlangfuhr. Sie war müde. Die letzten Wochen in ihrer kleinen Tierarztpraxis in Capena, nördlich von Rom, waren anstrengend – zu viele Notfälle, zu wenige Helfer. Die Hunde, die zu ihr kamen, waren fast immer Jagdhunde wie Englische Setter oder Bretonen, ausgesetzt weil sie nicht mehr nützlich waren, oder große Herdenschutzhunde wie Pastore Maremmano Abruzzese, die von Schäfern einfach zurückgelassen wurden. Doch hin und wieder tauchten andere Fälle auf – Fälle, die ihr eine Gänsehaut bereiteten.
Clara war Anfang vierzig, eine Frau mit entschlossener Haltung und ruhigem Wesen. Ihr Beruf hatte sie hart gemacht, aber nicht gefühllos. Sie konnte Schmerzen lindern, doch nicht jedes Leben retten. Eine bittere Wahrheit, die sie in den Jahren gelernt hatte. Vor sechs Jahren hatte sie Deutschland verlassen, um sich in Italien dem Tierschutz zu widmen. Capena ist ihre neue Heimat geworden, eine Stadt, in der sie manchmal mit italienischen Organisationen zusammenarbeitete, um ausgesetzte Hunde zu retten.
Neben ihr auf dem Beifahrersitz lag ihr Handy, stumm geschaltet. Nur noch wenige Kilometer bis nach Hause. Der Tag war lang gewesen – eine komplizierte OP an einem verletzten Bretonen hatte ihre Kräfte aufgebraucht. Sie sehnte sich nach einer heißen Dusche und ihrem Bett. Doch das Schicksal hatte andere Pläne für sie.
Plötzlich tauchten im Lichtkegel ihrer Scheinwerfer zwei leuchtende Augen auf. Clara trat reflexartig auf die Bremse. Ein dunkler Schatten bewegte sich mitten auf der Straße. Ein Hund. Kein kleiner Straßenstreuner, sondern ein großer, kräftiger Rüde mit muskulösem Körperbau. Sein Fell war schmutzig, seine Haltung angespannt. Er blinzelte ins grelle Licht und wich erst im letzten Moment zur Seite aus.
Clara stellte den Motor ab und griff nach ihrer Taschenlampe. Vorsichtig öffnete sie die Tür. „Hey, du“, sagte sie leise, ihre Stimme sanft und beruhigend. Der Hund bewegte sich nicht, sondern betrachtete sie misstrauisch. Er hinkte auf einer Seite, eine tiefe Wunde an der Vorderpfote war deutlich zu erkennen.
Ihr Herz schlug schneller. Ein verletzter Hund mitten in der Nacht – das konnte kein Zufall sein. Clara hatte im Laufe der Jahre viele solcher Fälle gesehen. Jagdhunde, die auf brutale Weise aussortiert wurden. Herdenschutzhunde, die sich selbst überlassen blieben. Doch dieser Hund war anders. Sein Körperbau, sein Verhalten – sie erkannte die Anzeichen sofort: Ein Kampfhund.
Sie ging vorsichtig einen Schritt näher. „Alles gut, Großer. Ich will dir helfen.“ Der Hund knurrte leise, doch seine Augen verrieten mehr Neugier als Aggression. Clara ließ sich auf die Knie sinken, um weniger bedrohlich zu wirken. Sie wusste, dass sie Zeit brauchte, um sein Vertrauen zu gewinnen.
Nach ein paar Minuten wagte sie sich näher. Der Hund ließ es zu, dass sie ihm vorsichtig über die Seite strich. Sein Fell war dreckig. Doch was sie entdeckte, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren: Auf der linken Seite im Nackenbereich entdeckte sie eine frische Wunde. Jemand hatte seinen Chip rausgeschnitten.
Clara stockte. Sie wusste, was das bedeutete. In Italien ist verpflichtend, dass die Hunde mit einem Chip versehen werden. Die Entfernung des Chips konnte nur eines bedeuten: Jemand wollte nicht, dass dieser Hund jemals identifiziert wurde.
Ein dumpfes Unbehagen breitete sich in ihr aus. Was, wenn dieser Hund Teil einer grausamen Machenschaft war? Sie hatte in den letzten Jahren genug über illegale Hundekämpfe gehört, über skrupellose Leute, die Tiere für Wettkämpfe missbrauchten. Doch es war das erste Mal, dass sie so deutlich mit dieser Realität konfrontiert wurde.
Clara atmete tief durch. Sie konnte ihn nicht hierlassen. Mit ruhigen Bewegungen öffnete sie die Autotür. „Komm, steig ein“, sagte sie sanft. Der Hund zögerte, dann machte er einen unsicheren Schritt auf sie zu. Clara half ihm vorsichtig hinein, schloss die Tür und setzte sich wieder hinter das Steuer.
Während sie den Motor startete, konnte sie nicht ahnen, dass diese Begegnung der Beginn eines Albtraums war – einer, der sie tief in die dunklen Machenschaften der illegalen Hundekämpfe führen würde. Und dass dieser namenlose Hund der Schlüssel zu einer Wahrheit war, die mächtige Menschen um jeden Preis verborgen halten wollten.
Kapitel 2 – Die erste Untersuchung
Clara fuhr mit ruhiger, aber aufmerksamer Miene durch die dunklen Straßen zurück, in Richtung ihrer Praxis in Capena. Der Hund lag erschöpft, aber wach auf dem Rücksitz. Seine dunklen Augen beobachteten jede ihrer Bewegungen. Er rührte sich kaum, nur sein schwerer Atem war im engen Raum des Wagens zu hören. Die Fahrt war kurz, aber in Claras Gedanken breitete sich eine Unruhe aus.
Wem gehörte dieser Hund? Wer hatte ihm den Chip entfernt – und warum?
Als sie die kleine Einfahrt zu ihrer Praxis erreichte, parkte sie rasch, stieg aus und öffnete vorsichtig die hintere Tür. Der Hund hob langsam den Kopf. Jetzt, da sie ihn genauer betrachtete, erkannte sie tiefe Narben an seinen Vorderbeinen und um den Hals. Es waren Kampfspuren.
„Komm, Großer“, murmelte sie, während sie die Leine aus ihrem Kofferraum nahm und sanft um seinen Hals legte. Er knurrte nicht, wehrte sich nicht – aber er folgte ihr mit schweren Schritten, als hätte er keine Kraft mehr für Widerstand.
In ihrer Praxis schaltete sie die Hauptbeleuchtung ein. Der vertraute Geruch von Desinfektionsmitteln und Medikamenten beruhigte sie. Sie führte den Hund in einen der Behandlungsräume und begann mit einer ersten Untersuchung.
Sein Fell war verfilzt, von Dreck verklebt. An den Pfoten klebte eingetrocknetes Blut, wahrscheinlich von der Wunde, die ihn zum Hinken brachte. Doch als sie vorsichtig mit der Hand über seinen Nacken strich, spürte sie die klaffende Wunde dort, wo eigentlich sein Mikrochip hätte sitzen sollen.
Clara biss sich auf die Unterlippe. Das war kein Zufall. Jemand hatte mit einem scharfen Messer oder Skalpell ganze Arbeit geleistet. Sie nahm eine sterile Kompresse, benetzte sie mit Desinfektionsmittel und begann, die Wunde vorsichtig zu reinigen. Der Hund zuckte kurz zusammen, aber blieb still.
„Du bist ein tapferer Junge“, flüsterte sie, während sie weiterarbeitete. Sie suchte nach weiteren Spuren, nach Hinweisen, die ihr sagen könnten, woher dieser Hund kam. Als sie seine Ohren kontrollierte, entdeckte sie eine alte Tätowierung, die fast vollständig übernarbt war. Das bestätigte ihre schlimmsten Vermutungen: Er war absichtlich anonymisiert worden.
Jemand hatte nicht gewollt, dass dieser Hund je wieder gefunden wurde.
Clara ließ ihre Hand auf seinem breiten Kopf ruhen und sah ihn an. Seine dunklen Augen schienen erschöpft, aber nicht feindselig. Da war etwas in ihnen – ein Rest von Vertrauen, von Hoffnung, dass dieses Mal alles anders werden könnte.
Sie musste ihn registrieren. Ohne Chip und ohne eindeutige Identifikation war er offiziell ein Niemand. Ein Hund ohne Namen.
Aber bevor sie sich um bürokratische Fragen kümmern konnte, musste sie ihn versorgen. Sie zog eine Spritze mit einem leichten Schmerzmittel auf und injizierte es vorsichtig in seine Hinterhand. Dann begann sie, die Wunde an seiner Pfote zu versorgen. Er hatte Glück gehabt – keine gebrochenen Knochen, keine tiefen Schnittwunden. Nur Fleischverletzungen, aber selbst die konnten unbehandelt zu Infektionen führen.
Während sie arbeitete, dachte sie über ihre nächsten Schritte nach. Dieser Hund war kein Streuner. Er war gezielt misshandelt, verändert worden. Er kam aus einer Welt, in die sie nie hatte eintauchen wollen, aber in die sie jetzt hineingezogen wurde.
Plötzlich vibrierte ihr Handy auf dem Tisch. Sie griff danach und las die Nachricht, die von einem unbekannten Absender kam:
„Lass den Hund in Ruhe. Es ist nicht dein Problem.“
Clara fror für einen Moment. Jemand wusste, dass sie ihn hatte.
Sie hob den Kopf und sah den Hund an, als könnte er ihr eine Antwort geben. Wer auch immer hinter dieser Nachricht steckte – sie hatten nicht vor, ihn einfach verschwinden zu lassen.
Und Clara wusste jetzt, dass sie es auch nicht tun würde.
Kapitel 3 – Die Suche
Die Nacht lag schwer über der toskanischen Landschaft. Nur das entfernte Zirpen der Grillen durchbrach die unheimliche Stille. Zwei Männer bewegten sich geduckt durch das hohe Gras am Straßenrand, ihre Taschenlampen warfen unstete Lichtkegel auf den Boden. Die Suche dauerte bereits länger, als ihnen lieb war, und ihre Geduld schwand mit jeder Minute. Sie suchten. Und sie waren wütend.
„Er kann nicht weit sein“, zischte einer von ihnen. Seine Stimme klang gereizt. „Er war verletzt, verdammt!“
Sein Begleiter schnaubte verärgert. „Wenn wir ihn nicht zurückbringen, wird Franco uns die Hölle heiß machen.“
Franco. Allein der Name reichte, um einen kalten Schauer über den Rücken der beiden Männer laufen zu lassen. Franco war nicht der Typ, mit dem man sich anlegte. Er erwartete Ergebnisse – und keine Ausreden. Und dieser Hund war nicht irgendein Streuner. Er war Teil ihrer Einnahmequelle, ein Kämpfer, der bereits bewiesen hatte, dass er überlebensfähig war, der Biss hatte, der Schmerzen aushielt. Ein Tier wie dieses ließ sich nicht einfach ersetzen. Und jetzt war er verschwunden.
„Drecksvieh“, knurrte der Erste und trat wütend gegen einen Stein. „Wir hätten ihn direkt erledigen sollen, als er sich beim letzten Kampf verweigert hat.“
Sein Komplize ließ das Licht seiner Lampe über den Boden gleiten, seine Augen verengten sich. „Hier! Sieh mal.“
Ein dunkler Fleck. Blut.
Die Spur führte von der Straße weg, hin zu dichten Büschen, die die Felder säumten. Der Hund musste sich dort versteckt haben, bevor er weiterlief. Die Männer folgten der Spur, während ihre Stiefel knirschend über den trockenen Boden scharrten.
Plötzlich hielt einer inne. „Da vorne! Sieh mal!“
Am Straßenrand stand ein Auto mit laufendem Motor. Die Scheinwerfer erleuchteten das trockene Gras, und durch das Fenster erkannten sie eine blonde Frau, die sich hastig über den Beifahrersitz beugte. Dann sahen sie ihn – den Hund. Sie öffnete die Tür, half dem verletzten Tier hinein und schloss sie wieder.
„Scheiße!“, zischte einer der Männer.
Doch sie waren zu weit entfernt, um noch einzugreifen.
Der Motor heulte auf, und die Reifen wirbelten Staub auf, als der Wagen beschleunigte. Im grellen Licht ihrer Taschenlampen blitzte der Schriftzug auf der Fahrertür auf:
Clara Wagner Tierarztpraxis – Capena.
Einen Moment lang sahen sie dem Auto nach, dann ballte einer der Männer die Faust.
„Die verdammte Tierärztin hat ihn mitgenommen.“
Der andere fluchte, zog eine Zigarette aus seiner Jackentasche und nahm einen tiefen Zug. Dann zückte er sein Handy, machte sich Notizen: Clara Wagner, Capena.
„Jetzt wissen wir, wo wir suchen müssen.“
Eine unheilvolle Stille legte sich über die Szene. Sie hatten keine Eile. Sie wussten jetzt, wer den Hund hatte – und sie würden ihn zurückholen.
Als sie in die Dunkelheit verschwanden, löste sich der dünne Rauch der Zigarette im kalten Nachtwind auf.
Kapitel 4 – Jemand beobachtet sie
Clara starrte auf die Nachricht auf ihrem Handy. Ihr Magen zog sich zusammen. Sie spürte, wie eine kalte Welle von Angst ihren Körper durchlief.
Jemand wusste, dass sie den Hund hatte.
Langsam ließ sie das Handy sinken und hob den Blick. Die Praxis war still, nur das leise Atmen des Hundes auf dem Untersuchungstisch durchbrach die Stille. Draußen war es tiefste Nacht, aber plötzlich fühlte sie sich beobachtet.
Sie schaltete das Hauptlicht aus, ließ nur eine kleine Lampe brennen. Ihr Herz pochte in ihrer Brust, als sie sich vorsichtig zum Fenster bewegte und einen Blick nach draußen warf. Die Straße war leer. Keine Autos, keine Menschen. Doch dann – ein Schatten.
Clara hielt den Atem an. War da jemand?
Sie presste sich an die Wand, lauschte. Schritte? Ein leises Geräusch, kaum wahrnehmbar. Vielleicht war es nur der Wind. Vielleicht bildete sie es sich nur ein. Aber nach der Nachricht klang das unwahrscheinlich. Jemand hatte sie gewarnt – und nun stand vielleicht genau dieser Jemand draußen.
Clara schüttelte den Kopf. Sie konnte sich jetzt keine Panik erlauben. Stattdessen griff sie nach ihrem Handy und suchte eine Nummer heraus.
Luca Moretti.
Ein Journalist. Jemand, der sich mit dunklen Machenschaften auskannte. Sie hatte ihn vor Monaten kennengelernt, als er über illegale Hundekämpfe recherchierte. Er wusste, wie skrupellos diese Leute waren.
Sie drückte auf den grünen Hörer. Es klingelte zweimal, dann nahm er ab.
„Clara? Es ist spät, was ist los?“
Sie öffnete den Mund, wusste für einen Moment nicht, wie sie es formulieren sollte. Dann flüsterte sie: „Ich glaube, ich habe ein Problem.“
„Was ist passiert?“
„Ich habe einen Hund aufgenommen. Er war verletzt, aber… es scheint, als ob jemand ihn unbedingt zurückhaben will. Ich habe eine Warnung bekommen. Und ich glaube, ich werde beobachtet.“
Es entstand eine Pause am anderen Ende. Dann: „Wo bist du jetzt?“
„In der Praxis.“
Luca atmete hörbar aus. „Mach alle Türen zu, schalte das Licht aus. Ich komme sofort.“
In diesem Moment klopfte es an die Tür.
Clara erstarrte.
Kein Patient kam um diese Uhrzeit. Kein Nachbar würde so spät unangekündigt auftauchen.
Langsam, fast lautlos, schlich sie zur Tür und blickte durch den schmalen Fensterschlitz.
Ein Auto stand auf der anderen Straßenseite. Die Scheinwerfer waren aus. Doch sie erkannte, dass jemand darin saß.
Das Klopfen ertönte erneut.
Clara wusste jetzt, dass es kein Zufall war. Sie hatte den Hund nicht nur aufgenommen – sie war ins Visier von Leuten geraten, die ihn um jeden Preis zurückhaben wollten.
Kapitel 5 – Das unsichtbare Geschäft
Die Nacht war ihr Schutzschild. Dort, wo kein Licht hinfiel, gediehen die dunkelsten Geschäfte.
In einer abgelegenen Lagerhalle, am Rand eines verfallenen Industriegeländes, versammelten sich Männer in dicken Jacken. Einige standen rauchend in Gruppen, andere lehnten an rostigen Metalltoren, beobachteten mit misstrauischen Blicken die Neuankömmlinge. Kein Wort war überflüssig, jede Bewegung hatte Bedeutung.
In der Mitte der Halle war ein improvisierter Ring aus Holzbalken und Maschendraht aufgestellt. Blutige Spuren auf dem Boden erzählten von den Ereignissen der letzten Nächte. Der Gestank von Angst, Schweiß und Eisen lag in der Luft. Ein dumpfes brummen aus Stimmen, leisen Anweisungen und unterdrücktem Knurren erfüllte die Halle, während im Hintergrund Scheinwerfer flackerten und die Schatten der Zuschauer in groteske Formen verwandelten.
Die ersten Kämpfe des Abends waren bereits gelaufen. Wetten wurden getauscht, Geld wanderte von einer Hand in die andere. Einige waren zufrieden mit ihren Gewinnen, andere blickten grimmig auf ihre leeren Hände. Es ging hier nicht um bloßen Nervenkitzel – es war ein Geschäft. Ein schmutziges, aber lukratives Geschäft, bei dem Leben und Tod gegeneinander abgewogen wurden. Die Einsätze waren hoch, die Summen noch höher.
Hunde wurden an schweren Ketten hereingeführt. Einige waren jung, nervös, noch nicht gezeichnet vom Kampf. Andere zeigten Narben, Erinnerungen an vergangene Nächte. Jeder von ihnen hatte einen Preis. Manche waren wertvolle Kämpfer, andere bloß Kanonenfutter – nützlich für ein paar Runden, bevor sie ersetzt wurden. Ihre Muskeln spannten sich, die Ohren zuckten bei jedem Laut, die Augen suchten nach einem Fluchtweg, der nicht existierte. Die, die nicht stark genug waren, würden bald aussortiert werden – nicht mit Worten, sondern mit Taten.
In einer dunklen Ecke stand Franco. Ein Mann, dessen Gesicht kaum jemand wirklich kannte, dessen Name jedoch in den richtigen Kreisen Ehrfurcht auslöste. Er war kein einfacher Organisator. Er war der, der dafür sorgte, dass das Rad sich weiterdrehte. Er kannte die Nachfrage, er kannte das Geschäft. Und er wusste, dass ein guter Hund mehr wert sein konnte als ein schlechter Mann.
Er blickte auf sein Handy. Eine Nachricht. „Er ist weg.“
Franco runzelte die Stirn. Sein Blick wanderte zum Käfig am Rand des Raumes – leer.
Er atmete tief ein. Das war unerwartet. Und es war ein Problem.
Er steckte das Handy zurück in seine Manteltasche, drehte sich um und trat durch die Menge. Seine Präsenz war genug, um eine Spur der Stille hinter sich zu lassen. Männer, die eben noch lachten, hielten inne, senkten die Stimmen, wichen beiseite. Franco war niemand, den man ignorierte.
Er wusste bereits, was zu tun war. Ein Hund verschwand nicht einfach. Nicht ein Hund wie dieser. Jemand hatte ihn genommen. Und in Francos Welt gab es keine offenen Rechnungen.
Er blieb vor einem der Männer stehen, einem breitschultrigen Kerl mit rasiertem Kopf, der gerade Geld zählte. Ohne ein Wort streckte Franco die Hand aus. Der Mann verstand sofort und reichte ihm sein Telefon.
Ein kurzer Blick, dann eine Nummer. Franco wählte. Das Geräusch der kämpfenden Hunde, der schreienden Männer, das Rufen der Wetten – all das trat in den Hintergrund, als die Leitung zu einer unbekannten Nummer durchging.
Einmal. Zweimal. Dann nahm jemand ab.
„Finde ihn“, sagte Franco nur. Dann legte er auf.
Hinter ihm begann ein neuer Kampf. Ein tiefes Grollen, ein Knurren, dann das erste Aufeinandertreffen. Blutige Felle, reißende Zähne, dumpfes Aufprallen auf den dreckigen Boden.
Aber Franco dachte längst an etwas anderes. An eine Lösung.
Ein Hund war nicht einfach verschwunden.
Er war genommen worden.
Und er würde zurückgebracht werden.
Kapitel 6 – Unerwarteter Besuch
Clara stand wie erstarrt vor der Tür. Das Klopfen war nicht laut gewesen, aber es hatte eine bedrohliche Qualität. Kein ungeduldiges Hämmern, kein sanftes Anklopfen eines Nachbarn – es war ein gezieltes, bewusstes Geräusch. Ein Signal.
Sie spürte, wie ihr Puls raste. Ihr Blick wanderte zur kleinen Fensterluke neben der Tür. Draußen parkte noch immer das Auto mit den ausgeschalteten Scheinwerfern. Die Silhouette eines Mannes war auf dem Fahrersitz zu erkennen, regungslos, wartend. Ihre Finger zitterten leicht, als sie das Handy in ihrer Hand umklammerte. Sollte sie die Polizei rufen? Doch was würden sie tun? Ein dunkles Auto in der Nacht, ein Mann, der einfach nur dort saß – kein Verbrechen. Kein Beweis.
Das Klopfen ertönte erneut, diesmal einen Hauch fester.
Clara zuckte zusammen. Ihre Gedanken rasten. Wer auch immer dort draußen stand, wusste, dass sie hier war. Sie wagte es nicht, zu antworten. Vielleicht würden sie denken, dass sie nicht da sei. Vielleicht würden sie gehen. Doch sie wusste, dass das nur Wunschdenken war.
Dann hörte sie eine zweite Bewegung – ein Auto, das sich rasch näherte. Scheinwerfer tauchten die kleine Straße in grelles Licht. Clara blinzelte, als der Wagen abrupt vor ihrer Praxis hielt. Ihre Anspannung wuchs. Waren es mehr von ihnen? War sie jetzt endgültig in die Enge getrieben?
Die Tür wurde aufgestoßen, und Luca Moretti stieg aus.
Seine Gestalt war ihr vertraut – groß, schlank, die dunklen Haare zerzaust, ein Mann, der aussah, als hätte er zu viele Geschichten gehört, die man lieber nicht kannte. Er bewegte sich schnell, zielgerichtet, als hätte er die Gefahr sofort erkannt.
„Clara?“ Seine Stimme war fest, aber leise.
Clara öffnete die Tür einen Spalt, ihr Herz hämmerte in ihrer Brust. In ihrem Rücken lag der verletzte Hund, seine ruhige Atmung war das einzige Geräusch im Raum. Sie spürte die Wärme seines Körpers, wusste, dass er nicht verstand, dass dieser Moment über Leben und Tod entscheiden könnte.
„Jemand ist hier“, flüsterte sie.
Luca nickte knapp. Sein Blick wanderte an ihr vorbei ins Dunkel. Er sah das parkende Auto, die Silhouette darin. Einen Moment lang geschah nichts. Dann startete der Fahrer den Motor – ein leises Brummen, dann rollte das Fahrzeug langsam an, drehte in einer weiten Schleife und verschwand in der Nacht.
Clara atmete erst wieder aus, als die Rücklichter im Dunkeln verschwanden. Sie presste eine Hand gegen ihre Brust, versuchte, ihren Atem zu beruhigen. Ihr Körper fühlte sich angespannt an, als hätte sie gerade einen Wettlauf hinter sich. Doch sie wusste, dass es nur eine Verschiebung war. Sie waren nicht weg. Sie hatten nur gesehen, dass sie nicht allein war – und entschieden, dass es jetzt noch nicht der richtige Moment war.
Luca trat ein, schloss die Tür hinter sich mit einem festen Klicken. „Das war eine Warnung.“
Clara nickte, ihre Kehle trocken. „Sie wissen, dass ich den Hund habe.“
Luca zog seine Jacke aus und ließ sich auf einen Stuhl sinken. Er rieb sich über das Gesicht, als hätte er diese Art von Situation schon zu oft erlebt.
„Dann hast du jetzt ein ernsthaftes Problem.“
Clara lehnte sich gegen die Tür und ließ sich langsam auf den Boden sinken. Ihre Beine fühlten sich plötzlich schwer an. „Ich weiß.“ Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
Luca ließ den Blick durch die Praxis wandern. „Ist er stabil?“
Clara nickte. „Ja. Ich habe ihn versorgt. Er hatte eine tiefe Wunde an der Pfote, alte Narben am Körper. Aber das Schlimmste ist…“ Sie hielt inne, dann hob sie den Kopf und sah Luca direkt an. „Jemand hat ihm seinen Chip rausgeschnitten.“
Luca zog die Brauen zusammen. „Das bedeutet, sie wollten, dass er nicht mehr zugeordnet werden kann. Jemand hat ihn absichtlich verschwinden lassen.“
Clara nickte. „Und jetzt wollen sie ihn zurück.“
Für einen Moment herrschte Stille zwischen ihnen. Nur der leise Atem des Hundes füllte den Raum. Dann richtete sich Luca auf, griff in seine Tasche und zog eine kleine Kamera hervor.
„Ich werde eine Runde ums Haus drehen. Wenn sie zurückkommen, will ich Beweise. Und du – schließ alles ab. Wir müssen herausfinden, wer hinter diesem Hund steckt. Und warum sie so verzweifelt sind, ihn zurückzubekommen.“
Clara nickte langsam. Sie wusste, dass sie keine Wahl hatte. Sie war in etwas hineingeraten, das größer war als sie. Und sie konnte nur hoffen, dass Luca ihr helfen konnte, bevor es zu spät war.
Kapitel 7 – Die Wahrheit unter der Oberfläche
Luca saß im spärlich beleuchteten Behandlungszimmer der Praxis und ließ seinen Blick über den schlafenden Hund gleiten. Er wirkte friedlich, doch die Narben auf seinem Körper erzählten eine andere Geschichte. Eine Geschichte, die Luca nur zu gut kannte.
Er lehnte sich zurück, rieb sich müde über das Gesicht. Die letzten Jahre hatte er in eine Welt geblickt, die die meisten Menschen nicht einmal erahnten. Eine Welt, die verborgen war, weil sie zu grausam war, um Teil der normalen Gesellschaft zu sein.
Illegale Hundekämpfe waren in Italien nicht nur ein düsteres Geheimnis – sie waren ein Geschäft. Ein millionenschweres Geschäft, das von kriminellen Netzwerken betrieben wurde. Mafia-Clans, organisierte Wettbetrüger, korrupte Polizisten – sie alle spielten ihre Rolle. Was als eine Randerscheinung begonnen hatte, war längst tief in der Unterwelt verwurzelt.
Luca hatte Berichte darübergeschrieben, hatte Undercover-Recherchen angestellt, war Nächten in dunklen Lagerräumen und auf verlassenen Industriegeländen nachgegangen. Er hatte Männer gesehen, die auf das Blut von Hunden wetteten, hatte die Schreie der Tiere gehört, die bis zum letzten Atemzug kämpfen mussten. Er hatte Fotos gemacht, Beweise gesammelt – und Feinde gewonnen.
Es war nicht das erste Mal, dass er bedroht worden war. Nach seinem letzten großen Bericht über so etwas war er von einem Motorrad verfolgt worden. Ein Warnschuss. Kurz darauf hatte jemand in seine Wohnung eingebrochen. Nur eine Warnung, keine Gewalt – noch nicht. Doch Luca hatte begriffen, dass er beobachtet wurde, dass jeder Schritt, den er machte, nicht unbemerkt blieb.
Und jetzt saß er hier, mitten in einer Praxis in Capena, mit einer Tierärztin, die sich ungewollt in dieselbe dunkle Welt verstrickt hatte.
Er atmete tief durch.
Dieser Hund – er musste aus einer der großen Arenen stammen. Vielleicht war er ein wertvolles Tier für die Kämpfe gewesen, vielleicht hatte er sich gegen das System gestellt und war aussortiert worden. Oder vielleicht hatte jemand versucht, ihn zu retten – und dabei ein gefährliches Spiel begonnen.
„Ich habe Dutzende Berichte über diese Kämpfe geschrieben, Clara“, sagte Luca schließlich. Seine Stimme klang rau von zu wenig Schlaf und zu vielen Zigaretten. „Aber es ist immer dasselbe Muster. Diese Hunde verschwinden von den Straßen, werden aus Lagern geholt, den sogenannten Canilis, oder werden direkt für die Kämpfe gezüchtet. Sie trainieren sie brutal, brechen sie, machen aus ihnen Maschinen. Manche sind mehr wert als ein Mensch.“
Er sah sie an. „Und wer sich einmischt, wird aus dem Weg geräumt.“
Clara schluckte. „Dann bist du also auch in Gefahr?“
Luca lächelte müde. „Ich bin es gewohnt. Aber du nicht.“
Er beugte sich nach vorne, zog sein Handy aus der Tasche und tippte etwas darauf. „Ich habe Kontakte, die mir helfen können, herauszufinden, woher dieser Hund stammt. Aber wenn sie dich bereits gefunden haben, dann werden sie nicht einfach aufgeben. Sie glauben, dass du ihn ihnen weggenommen hast. Und sie lassen niemanden davonkommen, der ihre Geschäfte stört.“
Er blickte erneut auf den Hund. „Wir müssen schnell sein. Und wir müssen vorsichtig sein.“
Kapitel 8 – Die erste Spur
Luca saß mit seinem Handy in der Hand und wartete. Die Sekunden zogen sich in die Länge, während er darauf hoffte, dass einer seiner Kontakte antwortete. Die Menschen, mit denen er in den letzten Jahren zu tun gehabt hatte, waren vorsichtig. Niemand wollte sich mit den falschen Leuten anlegen – besonders nicht mit denen, die hinter den Hundekämpfen standen.
Clara beobachtete ihn aus dem Hintergrund. Sie hatte sich an den Rand des Raumes gelehnt, ihre Arme um ihren Körper geschlungen. Ihr Blick wanderte immer wieder zu dem Hund, der auf einer weichen Decke lag. Er hatte sich seit Stunden nicht bewegt, doch seine Brust hob und senkte sich ruhig. Er war am Leben. Aber das reichte nicht. Sie musste wissen, woher er kam – und warum jemand ihn um jeden Preis zurückhaben wollte.
Doch bevor sie weiteren Schritten nachgingen, musste er in Sicherheit gebracht werden.
Stefania war die Einzige, der Clara in so einer Situation vertrauen konnte. Sie war nicht nur eine erfahrene Tierphysiologin, sondern auch eine leidenschaftliche Tierschützerin, die sich seit Jahren für misshandelte Hunde einsetzte. Ihre kleine Einrichtung lag etwas außerhalb der Stadt, umgeben von Olivenhainen und weiten Feldern – ein friedlicher Ort, weit entfernt von der Gewalt, aus der dieser Hund gekommen war.
Als Clara und Luca mit dem verletzten Rüden ankamen, wartete Stefania bereits vor der Tür. Sie hatte von Clara eine knappe Nachricht bekommen, keine Details, nur eine Bitte um Hilfe.
„Kommt rein“, sagte sie, ohne nachzufragen. Ihre Augen ruhten für einen Moment auf dem Hund, und ihre Stirn legte sich in Falten. „Er sieht schlimm aus.“
„Aber er ist stabil“, antwortete Clara, während sie ihm vorsichtig aus dem Wagen half. Stefania trat näher, ließ ihn an ihrer Hand schnuppern und beobachtete genau, wie er reagierte. Kein Knurren, keine Abwehr. Nur Erschöpfung.
„Er wird eine Weile brauchen, um zu heilen“, murmelte Stefania, während sie ihn ins Haus führte. „Aber das ist nicht nur körperlich, oder?“
Clara schüttelte den Kopf. „Nein. Er hat viel durchgemacht.“
Stefania sagte nichts weiter, sondern bedeutete ihnen, ihr zu folgen. Im Inneren ihrer kleinen Praxis bereitete sie ihm eine bequeme Liegestelle vor, untersuchte ihn noch einmal gründlich und gab ihm schließlich ein leichtes Beruhigungsmittel. Erst als der Hund sicher untergebracht war, wandte sie sich an Clara und Luca.
„Und jetzt erzählt mir, was hier los ist.“
Luca tauschte einen kurzen Blick mit Clara. Sie hatten nicht viel Zeit, aber Stefania hatte ein Recht darauf, zu wissen, was mit ihrem neuen Schützling los war. Also fasste Clara knapp zusammen, was passiert war – wie sie den Hund gefunden hatten, die bedrohliche Nachricht, die sie erhalten hatte, und ihre Vermutung, dass er aus einem Netzwerk illegaler Hundekämpfe stammen könnte. Stefania hörte schweigend zu, ihr Gesicht blieb reglos, doch ihre Hände ballten sich zu Fäusten.
„Bastarde“, sagte sie schließlich leise. „Ihr müsst vorsichtig sein.“
„Deswegen ist er hier“, sagte Clara. „Hier wird ihn niemand finden.“
Stefania nickte langsam. „Ich werde mich um ihn kümmern. Aber ihr müsst jetzt gehen. Wenn sie euch bereits beobachten, dann sollten sie nicht wissen, dass er hier ist.“
Clara war nicht wohl dabei, ihn zurückzulassen, aber sie wusste, dass Stefania recht hatte. Sie strich dem Hund sanft über den Kopf. „Bleib stark, Großer.“
Dann verließen sie das Haus, während Stefania die Tür hinter ihnen verriegelte.
Zurück in Lucas Auto vibrierte plötzlich sein Handy. Eine Nachricht.
Er öffnete sie sofort.
„Es gibt jemanden, der vielleicht etwas weiß. Treffpunkt morgen früh. Ich schicke dir die Details.“
Clara trat näher. „Eine Spur?“
Luca nickte langsam. „Vielleicht. Ich kenne diesen Informanten – er ist vorsichtig, aber wenn er sich meldet, dann hat er meist etwas.“
Clara biss sich auf die Lippe. „Kannst du ihm vertrauen?“
Luca seufzte. „Vertrauen ist relativ. Aber er hat mir schon in der Vergangenheit geholfen. Ich werde hingehen.“
Clara schüttelte den Kopf. „Ich komme mit.“
Er hob eine Braue. „Bist du sicher?“
„Das ist nicht nur dein Problem, Luca. Dieser Hund ist in meiner Praxis gelandet. Und wenn sie mich ohnehin auf dem Schirm haben, dann will ich zumindest wissen, womit ich es zu tun habe.“
Er musterte sie einen Moment, dann zuckte er mit den Schultern. „In Ordnung. Aber sei vorbereitet. Diese Welt ist nicht so, wie du sie kennst.“
Am nächsten Morgen lag noch feuchte Kälte in der Luft, als sie sich auf den Weg machten. Sie fuhren in Lucas Wagen – ein unauffälliger grauer Fiat, der sich in jede Stadt einfügte, ohne aufzufallen. Während Clara schweigend aus dem Fenster sah, konzentrierte sich Luca auf die Straße. Er hatte ein unwohles Gefühl.
Der Treffpunkt war ein kleines Café am Rande einer Nebenstraße, ein Ort, an dem niemand Fragen stellte. Der abblätternde Putz an den Wänden und die klapprigen Tische erzählten von vergangenen Zeiten, in denen das Leben hier vielleicht einmal unbeschwerter gewesen war. Heute saßen nur wenige Gäste im Inneren, jeder in sein eigenes Gespräch oder seinen Kaffee vertieft. Niemand schenkte ihnen Beachtung, als sie eintraten.
Luca blickte sich um, bevor er einen Tisch in der Ecke wählte. Er ließ den Blick zur Tür wandern, während Clara nervös ihre Hände um eine Tasse Kaffee schlang.
„Bist du sicher, dass er kommt?“ fragte sie leise.
Luca nickte. „Er kommt immer. Aber ob er die Wahrheit sagt, ist eine andere Frage.“
Ein paar Minuten vergingen, dann betrat ein schmaler Mann das Café. Die Kapuze seines Pullovers war tief ins Gesicht gezogen, seine Hände steckten in den Taschen. Er bewegte sich zügig, setzte sich ohne Begrüßung an ihren Tisch und umklammerte eine Tasse Kaffee, als würde er sich daran festhalten.
„Ihr sucht nach Informationen“, sagte er leise, ohne aufzusehen. „Ich könnte etwas haben.“
Luca lehnte sich vor. „Was weißt du?“
Der Informant nahm einen Schluck Kaffee, als würde er seine Worte abwägen. Dann sagte er: „Es gibt eine alte Trainingsanlage für Hunde, nicht weit von hier. Angeblich wurden dort früher Tiere für illegale Kämpfe vorbereitet. Manche sagen, es gibt sie immer noch.“
Clara runzelte die Stirn. „Und was hat das mit unserem Hund zu tun?“
Der Mann zuckte mit den Schultern. „Vielleicht nichts. Vielleicht alles. Aber wenn ihr Antworten wollt, würde ich dort anfangen.“
Luca musterte ihn. „Warum hilfst du uns?“
Ein dünnes Lächeln huschte über das Gesicht des Informanten. „Weil manche Dinge aufhören sollten zu existieren.“
Dann stand er auf, ließ ein paar Münzen für den Kaffee auf dem Tisch liegen und verschwand durch die Tür.
Clara blickte Luca an. „Glaubst du, das führt irgendwohin?“
Kapitel 9 – Der falsche Weg
Der Himmel war noch grau, als Clara und Luca auf einer abgelegenen Landstraße fuhren. Die ersten Sonnenstrahlen kämpften sich durch den dichten Morgennebel, der sich zwischen den Hügeln festgesetzt hatte. Die Luft roch nach feuchtem Gras und Erde, doch in Claras Magen lag ein unangenehmes Gefühl. Sie wusste nicht, ob es Nervosität oder instinktive Angst war – aber irgendetwas an dieser Spur fühlte sich falsch an.
Luca schien ihre Anspannung zu spüren. „Du musst nicht mitkommen“, sagte er, ohne den Blick von der Straße zu nehmen.
„Doch“, erwiderte sie sofort. „Ich will wissen, womit wir es hier zu tun haben.“
Er nickte knapp und konzentrierte sich wieder auf die Straße. Das Navi führte sie weiter ins Landesinnere, fernab von den touristischen Wegen, hinein in eine Gegend, die nur wenige besuchten. Sie passierten verlassene Bauernhöfe, eingestürzte Ställe, alte Lagerhallen – die Art von Orten, die niemand hinterfragte, wenn dort etwas Illegales geschah.
Schließlich erreichten sie ihr Ziel.
Vor ihnen erstreckte sich ein eingezäuntes Gelände, umgeben von hohen Bäumen. Ein altes, verwittertes Schild, halb zugewachsen von Kletterpflanzen, kündigte an, dass dies einmal eine Hundeschule gewesen war. Der Kies unter ihren Reifen knirschte, als Luca das Auto stoppte.
Clara sah sich um. Der Ort war gespenstisch still. Keine Bewegung, keine Geräusche außer dem leichten Rauschen des Windes, der durch die Bäume strich. „Bist du sicher, dass hier noch jemand aktiv ist?“ fragte sie skeptisch.
Luca schaltete den Motor aus und ließ seinen Blick über das Gelände schweifen. „Das werden wir gleich herausfinden.“
Sie stiegen aus. Die Stille war fast unnatürlich, nur das entfernte Zwitschern von Vögeln durchbrach die Leere. Clara konnte die feine Gänsehaut auf ihren Armen spüren, als sie sich der rostigen Eingangspforte näherten.
Luca drückte vorsichtig dagegen – sie schwang knarrend auf. Keine Kette, kein Schloss. Als wäre es gewollt, dass sie hereinkamen.
Im Inneren fanden sie verwitterte Hundezwinger, einige umgestürzte Hindernisse von alten Trainingsparcours und eine Halle aus Blech. Die Fenster waren dunkel, kein Geräusch drang aus dem Inneren. Der Boden war von Unkraut überwuchert, doch zwischen den Pflanzen zeichneten sich Spuren im Staub ab – als wäre hier vor kurzem jemand gewesen.
„Sieht nicht ganz verlassen aus“, murmelte Luca. Er ging voran, langsam, aufmerksam, als erwartete er jederzeit eine Falle.
Clara trat vorsichtig näher, ihr Herz schlug schneller. „Glaubst du, dass hier wirklich noch…?“
Ein Geräusch ließ sie erstarren.
Ein dumpfes Klappern. Metall gegen Metall.
Luca hob die Hand, bedeutete ihr, still zu sein. Sie hielten den Atem an. Dann – Stille.
Er zog langsam sein Handy aus der Jacke, bereit, Licht zu machen oder ein Foto aufzunehmen. Clara spürte, wie ihr Puls raste.
Sie schlichen weiter, bis sie die Tür der Halle erreichten. Luca zögerte nur kurz, dann drückte er sie vorsichtig auf. Ein widerlicher, abgestandener Geruch schlug ihnen entgegen – eine Mischung aus altem Schweiß, Erde und etwas, das Clara nicht definieren konnte. Es roch nach Angst.
Ihre Augen brauchten einen Moment, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Schatten zogen sich über die Wände, als Luca seine Taschenlampe einschaltete.
Dann sah sie es.
Dreckige, verlassene Käfige. Ketten an den Wänden. Blutflecken, längst eingetrocknet, aber unübersehbar. Der Boden war mit tiefen Kratzspuren überzogen, als hätten Tiere hier in Panik versucht, sich zu befreien. Die Luft war stickig, als hinge noch der letzte Kampf in ihr.
„Verdammt“, murmelte Luca. „Hier wurden sie trainiert.“
Clara fühlte sich, als wäre sie in eine andere Welt gestolpert. Eine, die sie nie betreten wollte. Sie schluckte schwer. „Das ist krank.“
Luca kniete sich neben einen der Käfige und fuhr mit den Fingern über das Metall. „Seit wann das hier verlassen ist, kann ich nicht sagen. Aber es war definitiv einmal aktiv. Und vor nicht allzu langer Zeit.“
Clara wollte etwas erwidern, als sie plötzlich wieder ein Geräusch hörte.
Schritte.
Nicht von draußen. Sondern aus der Dunkelheit der Halle.
Ihr Atem stockte. Sie drehte sich langsam um, ihr Blick suchte die Schatten ab. Luca stand ebenfalls auf, sein Körper angespannt. Das Licht seiner Taschenlampe wanderte über den Boden, die Wände – bis es auf eine Bewegung traf.
Eine dunkle Gestalt trat aus den Schatten. Groß, kräftig, mit einem tief ins Gesicht gezogenen Kapuzenpulli. Die Umrisse seines Gesichts waren kaum zu erkennen, doch die Art, wie er dastand, ließ keinen Zweifel daran, dass er auf sie gewartet hatte.
„Ihr habt euch verlaufen“, sagte die Stimme kalt.
Clara spürte, wie ihr Herz schneller schlug.
Luca sagte nichts. Er ließ nur langsam die Hand sinken, als wollte er zeigen, dass er keine Gefahr darstellte – doch Clara wusste, dass er genauso angespannt war wie sie.
Die Gestalt trat einen Schritt näher.
„Das hier ist kein Ort für Fremde.“
Kapitel 10 – Lucas Weg in die Dunkelheit
Luca hatte nicht geplant, in diese Welt einzutauchen. Er war kein Held, kein Gesetzeshüter, kein Mann, der nach Ruhm oder Anerkennung suchte. Er war ein Journalist, einer von vielen. Aber irgendwann, vor vielen Jahren, hatte er eine Entscheidung getroffen – oder vielleicht war sie für ihn getroffen worden. Und seither war er nicht mehr aus der Dunkelheit herausgetreten.
Er erinnerte sich noch genau an seinen ersten Fall. Es war in Neapel gewesen, in einer dieser engen, stickigen Gassen, in denen man immer das Gefühl hatte, beobachtet zu werden. Er hatte damals an einer Reportage über illegale Wetten gearbeitet – Fußballspiele, Boxkämpfe, Pferderennen. Aber dann war er auf etwas anderes gestoßen.
Hunde.
Es war ein Zufall gewesen. Ein Kontakt hatte ihm ein Treffen mit einem Mann arrangiert, der über die Wettmafia auspacken wollte. Doch als Luca dort ankam, fand er nicht das, was er erwartet hatte. Keine feinen Anzüge, keine manipulierten Sportwetten – sondern eine heruntergekommene Lagerhalle, die nach Blut und Angst roch. In einem improvisierten Ring standen zwei Hunde einander gegenüber, ihre Körper angespannt, ihre Mäuler aufgerissen, die Zähne gebleckt. Um sie herum Männer, die brüllten, lachten, Geldscheine austauschten. Ein Spektakel der Grausamkeit.
Luca hatte nie vergessen, was er dort gesehen hatte.
Von diesem Moment an hatte ihn das Thema nicht mehr losgelassen. Er hatte recherchiert, tiefer gegraben, sich in Kreise eingeschleust, in die kein Außenstehender freiwillig eintauchen würde. Er hatte Lügen erzählt, um Zutritt zu erhalten, sich als interessierter Käufer oder Investor ausgegeben. Er hatte zugesehen, hatte seine Kamera versteckt gehalten, hatte Beweise gesammelt. Und er hatte verstanden, dass diese Kämpfe nicht nur ein brutales Hobby für einige wenige waren – sondern ein Netzwerk. Eine Industrie. Eine Maschine, angetrieben von Geld, Macht und der stillschweigenden Duldung derer, die es besser hätten wissen müssen.
Jede Stadt hatte ihre eigenen Arenen, ihre eigenen Drahtzieher. In Rom lief es anders als in Neapel, in Palermo anders als in Mailand. Manche Kämpfe waren improvisierte Veranstaltungen in verlassenen Gebäuden, andere hochorganisierte Events, bei denen Männer in teuren Anzügen in Ledersesseln saßen und fünfstellige Summen setzten. Luca hatte herausgefunden, dass oft nicht nur Hunde kämpften. Es gab auch Wetten auf Menschen – auf Gefangene, auf Schuldenmacher, auf jene, die ihre Leben gegen die Hoffnung auf eine letzte Chance setzten.
Er hatte anonym Berichte geschrieben. Hatte Namen genannt. Hatte Beweise veröffentlicht. Manchmal war das ein Sieg. Manchmal war es nichts weiter als eine Nadel im Heuhaufen. Denn für jeden Ring, der aufflog, öffnete sich ein neuer. Und für jeden Verhafteten standen bereits zwei neue Männer bereit, um seinen Platz einzunehmen.
Er hatte Drohungen erhalten. Seine Wohnung war durchsucht worden. Einmal hatte jemand sein Auto manipuliert, die Bremsleitung durchtrennt. Nur ein Zufall hatte ihn gerettet. Und doch hatte er nicht aufgehört.
Warum?
Vielleicht, weil er wusste, dass er es konnte. Weil er Zugang hatte zu Informationen, die andere nicht bekamen. Weil er mit seiner Arbeit Licht auf die dunkelsten Ecken werfen konnte.
Oder vielleicht, weil er nie vergessen hatte, wie einer der Hunde in dieser ersten Lagerhalle ausgesehen hatte, bevor er in den Kampf geschickt wurde.
Seine Augen.
Luca hatte viele Dinge gesehen, die er nicht mehr aus seinem Kopf bekam. Aber dieser Blick, voller Angst, Schmerz und stiller Resignation – er war der Grund, warum er weitermachte.
Selbst wenn es bedeutete, dass er immer wieder in die Dunkelheit zurückkehren musste.
Kapitel 11 – Die Begegnung im Dunkeln
Die Gestalt in der Halle stand regungslos da. Ein dunkler Schatten in der ohnehin finsteren Umgebung, kaum auszumachen, aber eindeutig da. Das Licht von Lucas Taschenlampe zuckte über den Boden, traf auf alte Blutflecken, auf umgekippte Käfige und schließlich auf das Gesicht des Mannes.
Claras Herz hämmerte in ihrer Brust. Der Instinkt sagte ihr, dass sie sofort weglaufen sollte, doch ihre Beine fühlten sich schwer an. Luca neben ihr war ebenso angespannt. Die Art, wie die Gestalt sich bewegte – langsam, kalkuliert, als hätte sie alle Zeit der Welt – ließ ein unwohles Gefühl in ihr aufsteigen. Kein Mensch, der nichts zu verbergen hatte, verhielt sich so.
„Ihr habt euch verlaufen“, sagte die Stimme des Unbekannten schließlich. Ruhig, fast amüsiert. Kein Hauch von Aggression, aber dennoch von einer gefährlichen Selbstsicherheit durchzogen.
Luca blieb reglos. Er wusste, dass jede falsche Bewegung die Situation eskalieren lassen konnte. Er kannte diesen Typ Mensch. Jemand, der sich seiner Umgebung vollkommen sicher war. Jemand, der wusste, dass er am längeren Hebel saß.
„Wir suchen nach Informationen“, sagte er schließlich. Seine Stimme war fest, kontrolliert, als hätte er diese Situation unter Kontrolle. Doch Clara wusste, dass dem nicht so war.
Die Gestalt bewegte sich leicht, trat einen Schritt näher. Das Licht der Taschenlampe enthüllte für einen Moment die harten Züge des Mannes, eine Narbe über der linken Wange, tiefliegende Augen, die sich nicht lesen ließen.
„Informationen?“ Er lachte leise. „Hier gibt es keine Informationen. Nur Geister aus der Vergangenheit.“
Luca ließ sich nicht beirren. „Man sagt, hier wurden Hunde trainiert.“
Die Gestalt nickte langsam. „Man sagt viel. Und vieles davon ist wahr.“
Clara spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog. Die Atmosphäre in der Halle war drückend. Es war nicht nur die Dunkelheit oder der widerliche Gestank nach altem Blut. Es war die Art, wie der Mann sprach – als sei das hier für ihn bedeutungslos. Ein Kapitel, das abgeschlossen war.
„Ihr solltet gehen“, sagte er schließlich. „Dieser Ort ist nicht mehr wichtig.“
Luca ließ sich davon nicht abschütteln. „Aber er war es einmal.“
Die Gestalt trat einen weiteren Schritt näher. Jetzt war er nur noch wenige Meter von ihnen entfernt. Clara konnte die feinen Narben auf seinen Händen erkennen, das fahle Licht, das auf seinen Kapuzenpulli fiel. „Früher vielleicht. Heute ist es nur noch ein leerer Käfig. Genau wie die Hunde, die hier zurückgelassen wurden.“
Claras Gedanken überschlugen sich. Wenn das hier nur noch ein leerer Ort war, warum war er dann hier? Warum wartete er auf sie?
„Was ist mit den Hunden passiert?“ fragte sie plötzlich.
Der Mann schmunzelte. „Die, die stark waren, haben überlebt. Die anderen…“ Er ließ den Satz unvollendet.
Ein Kloß bildete sich in Claras Kehle. Sie spürte Wut in sich aufsteigen, doch sie hielt sich zurück.
Dann plötzlich – ein Geräusch von draußen. Schritte im Kies. Ein Auto, das in der Ferne startete.
Die Gestalt bewegte sich als Erste. Er drehte den Kopf leicht zur Seite, als würde er etwas erwarten. Dann sah er Luca an.
„Ihr wolltet Antworten. Jetzt habt ihr eine.“
Er ließ die Worte in der Luft hängen, bevor er sich abrupt umdrehte und in der Dunkelheit verschwand. Luca machte einen Schritt nach vorn, wollte ihm folgen, doch Clara hielt ihn am Arm zurück.
„Luca, das fühlt sich nicht richtig an“, flüsterte sie.
Er sah ihr in die Augen und nickte langsam. Sie hatten eine Spur – aber sie wussten nicht, ob sie ihnen wirklich weiterhalf oder in eine Falle führte.
Der Wind pfiff durch die leeren Käfige. Irgendwo knarrte Metall leise in der Dunkelheit. Und zum ersten Mal, seit sie diesen Ort betreten hatten, war Clara sich sicher, dass sie nicht allein gewesen waren – und dass sie beobachtet wurden.
Kapitel 12 – Dunkle Zeichen
Der Wind riss an den blechernen Überresten der Halle, ließ rostige Ketten an den Wänden klirren. Die Schritte des Fremden waren längst verhallt, doch seine Worte hingen noch immer in der Luft. Clara spürte, wie ihre Hände feucht wurden. Etwas an dieser Begegnung nagte an ihr.
Luca ließ langsam seinen Blick durch die Halle wandern, sein Körper noch immer angespannt. „Wir sollten uns hier noch genauer umsehen“, sagte er schließlich leise. Seine Stimme klang ruhig, aber sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er ebenso beunruhigt war wie sie.
Clara nickte. Auch wenn ihr Instinkt ihr sagte, dass sie verschwinden sollten, wollte sie wissen, was sich hier wirklich abgespielt hatte. Sie bewegten sich langsam durch die Halle, ihre Schritte hallten auf dem staubigen Betonboden wider. Überall Spuren von Gewalt – zerkratzte Wände, Blutreste, gebrochene Metallgitter. Das hier war mehr als eine alte Trainingsanlage. Es war ein Ort, an dem Tiere zu etwas geformt wurden, so, dass sie nicht mehr sie selbst sein durften.
Luca kniete sich neben einen der umgestürzten Käfige. „Hier hat ein Hund verzweifelt versucht, sich herauszuwühlen.“ Seine Finger fuhren über die tiefen Kratzspuren im Metall. „Er hat es nicht geschafft.“
Clara schluckte schwer. Sie ging weiter, ihr Blick glitt über die rostigen Strukturen, bis sie an einer Wand stoppte. Dort, mitten in den unzähligen alten Kratzspuren und getrockneten Blutflecken, war etwas eingeritzt. Sie leuchtete mit ihrer Taschenlampe darauf.
Ein Name.
Wagner.
Clara fühlte, wie ihr Herz einen Schlag aussetzte. Ihre Kehle wurde trocken. „Luca“, sagte sie, ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern.
Er war sofort bei ihr, sein Blick folgte ihrer Taschenlampe. Für einen Moment sagte keiner von ihnen etwas.
„Das ist kein Zufall“, murmelte er schließlich. Seine Stimme klang jetzt rauer. „Jemand wusste, dass wir kommen.“
Clara schüttelte den Kopf. „Aber wie? Und warum mein Name?“
Luca schritt langsam zurück. „Das war eine Botschaft. Jemand will, dass du weißt, dass sie dich im Visier haben.“
Ein kalter Schauer lief Clara über den Rücken. Sie hatte gewusst, dass sie sich mit gefährlichen Leuten angelegt hatten, aber das hier… das war etwas anderes. Das war persönlich.
Ein lautes Geräusch ließ sie zusammenzucken. Draußen vor der Halle – eine Autotür schlug zu. Dann ein zweites Geräusch. Schritte. Mehrere.
„Verdammt“, zischte Luca. Er packte Claras Hand. „Wir müssen hier raus.“
Clara drehte sich um, ihr Puls raste. Sie rannten zur Hinterseite der Halle, vorbei an den dunklen Käfigen, während die Schritte draußen näherkamen. Lichtkegel tanzten durch die Fenster. Sie waren nicht mehr allein.
Dann hörten sie eine Stimme. Tief, kalt, mit einem Hauch von Belustigung.
„Clara Wagner. Luca Moretti.“
Sie blieben abrupt stehen. Der Fremde kannte ihre Namen.
Clara fühlte, wie sich ihr Magen zusammenzog. Dies war keine zufällige Warnung mehr. Dies war eine Jagd. Und sie waren die Beute.
Kapitel 13 – Der Verrat in den Schatten
Die Nacht war erfüllt von den Geräuschen der Menge. Männer, die sich lautstark über Wetten unterhielten, das dumpfe Klatschen von Geldscheinen, das schrille Bellen von Hunden. Ein grelles Licht beleuchtete den Käfig, in dem zwei Tiere einander gegenüberstanden. Ihre Muskeln waren angespannt, ihre Körper von Narben übersät. Doch während einer von ihnen bereits knurrend auf seinen Gegner losging, stand der andere nur da. Still. Reglos.
Der namenlose Hund.
Franco beobachtete das Spektakel aus der ersten Reihe, seine Stirn verfinstert. Der Hund war ein Kämpfer gewesen – ein guter, gnadenloser. Doch heute war etwas anders. Er rührte sich nicht, wich sogar zurück, als der andere Hund näherkam. Ein Raunen ging durch die Menge. Das durfte nicht passieren.
„Mach schon, du Drecksvieh“, knurrte einer der Männer und schlug mit einem Stock gegen das Gitter, um ihn anzutreiben. Doch der Hund wich nur noch weiter zurück, senkte die Ohren.
Franco verengte die Augen. Er stand langsam auf, ließ seine Zigarette auf den Boden fallen und trat sie mit dem Absatz aus. Ein Kämpfer, der sich verweigerte, war nichts wert. Es war eine Demütigung – für ihn und für das Geschäft.
„Holt ihn da raus“, befahl er mit ruhiger, aber gefährlicher Stimme.
Zwei Männer traten in den Käfig und zerrten den Hund hinaus. Er ließ es geschehen, ohne Widerstand, ohne Aggression. Die Menge pfiff verächtlich. Ein Hund, der nicht kämpfte, war ein toter Hund. Franco wusste das. Aber er hatte andere Pläne.
„Sperrt ihn weg. Wir entscheiden später, was mit ihm passiert.“
Der Hund wurde in eine dunkle Zelle am Rande der Halle geschleppt, weit entfernt vom Lärm der Kämpfe. Niemand würde sich um ihn kümmern. Niemand würde ihn suchen.
Aber jemand hatte ihn längst bemerkt.
Die Stunden verstrichen. Die Halle wurde leerer, die Stimmen verstummten, nur noch das entfernte Geräusch eines laufenden Motors war zu hören. In der Dunkelheit der hinteren Räume bewegte sich eine Gestalt lautlos durch die Gänge.
Der Schlüssel drehte sich kaum hörbar im Schloss. Die Tür zur Zelle schwang auf. Der namenlose Hund hob träge den Kopf, sein Körper zitterte vor Erschöpfung. Doch dann – eine Berührung. Eine ruhige Hand an seinem Nacken. Eine Stimme, leise, aber fest:
„Wir gehen.“
Der Hund zögerte, dann richtete er sich mühsam auf.
Der Unbekannte arbeitete schnell. Ein Messer blitzte auf, schnitt durch das schmutzige Fell. Der Mikrochip, das Zeichen seines Besitzes, fiel in den Staub. Ein Symbol für Freiheit – oder für eine neue Jagd, die bald beginnen würde.
„Lauf“, sagte die Stimme.
Und der Hund lief.
Als Franco am nächsten Morgen in die Halle zurückkehrte, erwartete er, eine Entscheidung zu treffen. Doch stattdessen fand er nur eine leere Zelle, einen offenen Käfig – und keinen Hund.
Sein Gesicht blieb regungslos, doch in seinen Augen loderte Wut. Jemand hatte ihn hintergangen. Jemand in seinen eigenen Reihen hatte das Tier befreit. Das bedeutete zwei Dinge:
Jemand war gegen ihn. Und jemand war jetzt in Gefahr.
In einer dunklen Ecke der Stadt, versteckt vor den Blicken derjenigen, die ihn kannten, zog sich der Unbekannte die Kapuze tiefer ins Gesicht. Er hatte seine Wahl getroffen. Und bald würde auch sein Name fallen.
Alessio.
Kapitel 14 – Ein neues Opfer
Franco saß an einem schweren Holztisch in einem abgelegenen Lagerhaus. Der Rauch seiner Zigarette hing schwer in der Luft, während seine Männer um ihn herumstanden, schweigend, wartend. Niemand wagte es, etwas zu sagen. Francos Gesicht war wie eine unbewegliche Maske, doch jeder in diesem Raum wusste: Sein Zorn war ein Feuer, das früher oder später jemanden verbrennen würde.
„Jemand hat ihn rausgeholt“, sagte er schließlich. Seine Stimme war ruhig, gefährlich ruhig. „Einer von uns.“
Einige Männer scharrten nervös mit den Füßen, andere hielten den Blick gesenkt. Sie wussten, was es bedeutete, wenn Franco jemanden als Verräter betrachtete. Doch noch hatte er keine Namen. Noch nicht.
„Wir werden ihn finden. Aber bis dahin…“ Er drückte die Zigarette in einem überfüllten Aschenbecher aus und lehnte sich vor. „Wir brauchen Ersatz.“
Niemand stellte Fragen. Sie wussten genau, wo sie suchen mussten.
Zwei Tage später rollte ein schwarzer Geländewagen über eine staubige Straße, weit entfernt von den Touristenzentren, wo Italien noch das Bild einer romantischen Postkarte zeigte. Hier gab es nichts als endlose Felder, verlassene Höfe – und Lager, über die niemand sprach.
Franco blickte durch das getönte Seitenfenster. Vor ihnen erhob sich ein hoher Zaun, dahinter Reihen von rostigen Hundezwingern. Das Gelände war riesig, größer als ein Fußballfeld, und doch schien es niemandem aufzufallen. Keine Proteste, keine Medienberichte. Die Welt drehte sich weiter, während hier hinter Gittern tausende Hunde verrotteten.
Die Regierung zahlte für jeden einzelnen von ihnen – bis zu fünf Euro pro Tag. Eine sichere Einnahmequelle für diejenigen, die skrupellos genug waren, sie zu nutzen. Mehr als tausend Hunde drängten sich in diesem Lager, ein Ort, an dem keine Fragen gestellt wurden, solange das Geld floss. Franco kannte die Mechanismen. Er kannte die Männer, die sich hier die Taschen füllten.
Der Geländewagen hielt vor einem Container, der als Büro diente. Der Lagerverwalter trat heraus – ein hagerer Mann mit wässrigen Augen und einer Zigarette im Mundwinkel. Er kannte Franco, wusste, dass er kein gewöhnlicher Besucher war.
„Du suchst einen Hund?“, fragte er, als wäre es ein Geschäft wie jedes andere.
Franco nickte und trat näher. „Einen mit Kraft. Einen, der noch nicht gebrochen ist.“
Der Mann kratzte sich am Kinn. „Hast du eine Vorliebe?“
„Egal, solange er kämpfen kann.“
Der Lagerverwalter zuckte mit den Schultern und winkte ihn durch das Tor. Franco folgte ihm, während seine Männer draußen warteten.
Der Gestank von Urin, Kot und Verwesung lag schwer in der Luft. Hunde kauerten in ihren Käfigen, viele zu schwach, um überhaupt noch aufzustehen. Andere bellten oder jaulten, eine Kakophonie aus Verzweiflung und Wahnsinn. Einige fraßen die Überreste ihrer toten Zwingerkameraden – es gab nicht genug Futter, und niemand kümmerte sich um sie.
Franco blieb stehen und ließ seinen Blick über die Käfige schweifen. So viele Körper, so viele leere Blicke. Diese Tiere waren nichts weiter als lebende Schatten.
„Die meisten hier taugen nichts mehr“, sagte der Verwalter. „Aber ich habe da was.“
Er führte Franco zu einem separaten Bereich, abseits der großen Reihen. Hier waren nur wenige Käfige, doch die Hunde darin sahen anders aus. Ihre Augen waren nicht leer, sondern voller Wut.
„Das hier sind die, die man nicht einfach in die Masse werfen kann. Zu aggressiv. Oder zu stark. Die, die die anderen töten würden, wenn man sie lässt.“
Franco kniete sich vor einen der Käfige. Ein großer, muskulöser Hund starrte ihn an, das Fell verfilzt, aber die Augen wach. Ein Kämpfer. Er erkannte es sofort.
„Der da“, sagte Franco und zeigte auf das Tier. „Wie lange sitzt er schon hier?“
„Zwei Jahre. Wurde als Welpe hergebracht. Hat überlebt, weil er die anderen gefressen hat.“ Der Verwalter grinste. „Zäher Bastard.“
Franco nickte. „Er gehört jetzt mir.“
Der Verwalter zuckte mit den Schultern. „Wenn du meinst. Mir egal, solange du zahlst.“
Franco stand auf und sah dem Hund in die Augen. Es war das gleiche leere Feuer, das er schon bei so vielen anderen gesehen hatte.
„Jetzt geht das Spiel von vorne los“, murmelte er und drehte sich um. „Bringt ihn ins Auto.“
Kapitel 15 – Zurück auf der Spur
Clara und Luca saßen schweigend in ihrem Auto, während sich die Dunkelheit um sie legte. Der Motor lief noch nicht – sie brauchten einen Moment, um das Erlebte zu verarbeiten. Der Name an der Wand, die Schritte in der Nacht, die Stimme, die ihre Namen kannte. Sie waren nicht nur Beobachter mehr. Sie waren Ziele geworden.
Clara starrte aus dem Fenster, ihre Gedanken rasten. „Jemand hat meinen Namen dort eingeritzt. Das bedeutet, sie wussten, dass wir kommen.“ Ihre Stimme war leise, aber fest. Sie hatte Angst, doch Angst allein brachte sie nicht weiter.
Luca trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad. „Entweder wollten sie uns eine Nachricht hinterlassen – oder es war eine Warnung. Vielleicht beides.“
Clara drehte sich zu ihm. „Und was, wenn es nicht nur eine Warnung war? Was, wenn jemand wollte, dass wir diesen Ort finden?“
Luca schnaubte. „Du meinst, sie haben uns absichtlich dahin gelockt? Möglich. Aber warum?“
Clara dachte an den Hund, an die Narben auf seinem Körper, an die Art, wie er sich nicht gewehrt hatte. „Weil dieser Hund wichtig ist. Und weil jemand nicht will, dass wir herausfinden, warum.“
Luca startete den Wagen, der leise zum Leben erwachte. „Dann sollten wir genau das tun.“
Sie fuhren in die Nacht, zurück in die Stadt, zurück zu Stefania. Clara wollte nach dem Hund sehen – wollte wissen, ob es ihm besser ging.
Als sie auf den Hof der kleinen Tierklinik einbogen, brannte noch Licht im Behandlungsraum. Stefania war noch wach. Sie hatte den Hund nicht allein gelassen.
Kaum waren sie aus dem Wagen gestiegen, öffnete Stefania bereits die Tür. „Kommt rein“, sagte sie knapp. Ihr Gesichtsausdruck war ernst.
Drinnen lag der Hund zusammengerollt auf einer weichen Decke. Sein Blick folgte ihnen, er war wach, aufmerksam, aber er zeigte keine Angst mehr. Clara kniete sich neben ihn und strich ihm vorsichtig über den Kopf.
„Er frisst wieder“, sagte Stefania. „Und er wird stärker. Aber es gibt etwas, das ihr wissen solltet.“
Clara und Luca sahen sie erwartungsvoll an.
Stefania nahm einen Stuhl und setzte sich ihnen gegenüber. „Ich habe mir seine alten Wunden genau angesehen. Die meisten sind Narben von Kämpfen, aber es gibt etwas anderes. An mehreren Stellen hat er feine Schnitte, die nicht zufällig sind.“ Sie hielt inne, bevor sie weitersprach. „Jemand hat ihn markiert. Absichtlich.“
Claras Magen zog sich zusammen. „Markiert?“
„Es sieht aus wie eine Art Code oder Symbol. Ich habe es fotografiert. Vielleicht könnt ihr herausfinden, was es bedeutet.“
Luca nahm das Handy und betrachtete das Bild. Mehrere feine Narben bildeten eine Art Muster an der Schulter des Hundes. Es wirkte nicht zufällig, nicht wie eine einfache Verletzung.
„Das ist kein Zufall“, murmelte er. „Das ist eine Spur.“
Clara legte eine Hand auf den Hund. „Dann werden wir herausfinden, wohin sie führt.“
Zur gleichen Zeit – ein anderer Ort
Franco stand neben seinem Geländewagen, eine Zigarette zwischen den Fingern. Er ließ den Rauch langsam entweichen, während seine Gedanken um eine einzige Frage kreisten: Wo zum Teufel war dieser Hund?
Jemand hatte ihn befreit. Jemand hatte seinen Befehl missachtet. Und jetzt lief irgendwo ein Tier herum, das für ihn eine tickende Zeitbombe war.
Er spürte die Blicke seiner Männer, doch niemand sagte etwas. Sie warteten nur darauf, dass er den nächsten Schritt vorgab.
Ohne ein weiteres Wort zog Franco sein Handy aus der Tasche und wählte eine Nummer. Es klingelte zweimal, dann nahm jemand ab.
„Findet den Hund.“
Er ließ eine Pause, bevor er kalt hinzufügte: „Und findet diese Clara Wagner.“
Er legte auf, ohne eine Antwort abzuwarten. Er hatte einen Auftrag erteilt. Und wenn Franco einen Auftrag erteilte, dann wurde er ausgeführt.
Er stieg in seinen Wagen, warf die halbgerauchte Zigarette aus dem Fenster und ließ den Motor an.
Kapitel 16 – Das Brandzeichen
Die Nacht lag schwer über den Straßen, als Clara und Luca mit ruhiger, aber gezielter Geschwindigkeit Richtung Stefanias Tierklinik fuhren. Der Motor lief leise, die Scheinwerfer tauchten die verlassene Landstraße in ein fahles Licht. Sie waren vorsichtig – zu vorsichtig, wie Luca fand. Doch nach den letzten Stunden wussten sie, dass sie nicht mehr nur Beobachter waren. Sie waren in etwas hineingeraten, das viel größer war, als sie zunächst angenommen hatten. Und Franco ließ sie jetzt suchen.
Luca blickte in den Rückspiegel. Keine Scheinwerfer. Keine Fahrzeuge hinter ihnen, die verdächtig wirkten. Dennoch fuhr er nicht direkt bis zur Klinik. Stattdessen bog er in einen Nebenweg ein, ließ den Wagen eine Weile im Dunkeln stehen und beobachtete die Straße. Erst als er sich sicher war, dass ihnen niemand gefolgt war, kehrte er zurück auf die Hauptstraße und fuhr die letzten Kilometer bis zu Stefanias Hof.
Als sie ankamen, stand Stefania bereits an der Tür. Sie wirkte angespannt, aber nicht verängstigt. Sie hatte sich an gefährliche Situationen gewöhnt – vielleicht nicht an diese Art von Bedrohung, aber an den Kampf für die, die sich nicht selbst schützen konnten.
„Kommt rein“, sagte sie knapp und ließ sie in die Praxis. Kaum war die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen, wandte sie sich an Clara. „Ich habe etwas entdeckt, das ihr sehen müsst.“
Clara und Luca tauschten einen kurzen Blick. Dann folgten sie Stefania in den Behandlungsraum, wo der Hund lag. Sein Blick war wach, aber ruhig. Er hatte sich verändert. Die Erschöpfung war noch da, aber seine Haltung war anders – fast so, als wüsste er, dass er nicht mehr allein war.
„Ich habe ihn heute geschoren, um eine alte Wunde besser behandeln zu können“, erklärte Stefania und deutete auf die rechte Schulter des Hundes. Sie griff nach einer kleinen Taschenlampe und leuchtete auf die Stelle, an der das verfilzte Fell entfernt worden war. „Und dann habe ich das hier gefunden.“
Clara kniete sich neben den Hund. Ihr Herz schlug schneller, als sie das sah, was Stefania meinte.
Ein Brandzeichen.
Es war alt, fast vollständig verblasst. Ein kleines, in die Haut eingebranntes Symbol, das kaum noch zu erkennen war. Die Narben waren über die Jahre mit Fell bedeckt worden, doch jetzt, wo das Fell geschoren war, konnte man es wieder sehen.
Luca kniff die Augen zusammen. „Das ist kein Zufall.“
„Ich denke auch nicht“, erwiderte Stefania. „Aber ich kann nicht sagen, was es bedeutet.“
Clara strich mit den Fingern vorsichtig über die Narbe. Sie war rau unter ihrer Berührung. Das Zeichen war zu klein, um auf den ersten Blick entschlüsselt zu werden, aber es war da. Und jemand hatte es dem Hund absichtlich eingebrannt.
„Das ist ein Kennzeichen“, sagte Luca nachdenklich. „Aber wofür?“
Niemand sprach. Nur das leise Atmen des Hundes füllte den Raum.
Dann hob Clara den Kopf. „Wir müssen herausfinden, wer dieses Zeichen benutzt.“
Luca nickte. „Und das müssen wir schnell tun. Denn wenn jemand ihn so markiert hat, dann gibt es irgendwo Menschen, die genau wissen, wer er ist.“
Er griff nach seinem Handy, tippte eine Nummer ein und hielt es ans Ohr. Sekunden verstrichen. Kein sofortiges Freizeichen. Dann endlich nahm jemand ab. Eine tiefe Stimme meldete sich – ungeduldig, misstrauisch.
„Luca Moretti“, sagte die Stimme. „Lange nicht gehört.“
„Ich brauche eine Information“, erwiderte Luca knapp. „Über ein altes Brandzeichen. Ich schicke dir ein Foto.“
Ein kurzes Schweigen. Dann ein leises Lachen. „Du spielst mit Feuer, Moretti.“
Luca blickte zu Clara und Stefania. „Ich weiß. Deshalb brauche ich Antworten.“
„Schick das Bild“, kam die knappe Antwort. Dann wurde aufgelegt.
Clara rieb sich nachdenklich die Schläfen. „Wer war das?“
Luca legte das Handy beiseite. „Jemand, der sich mit der dunklen Seite dieser Welt auskennt.“
Stefania verschränkte die Arme. „Und wie sicher ist diese Person?“
Luca zögerte kurz. „So sicher, wie man in diesem Geschäft sein kann.“ Er sah zu dem Hund hinab, dessen Atem ruhig ging. „Aber wir haben keine andere Wahl. Wir müssen wissen, wer er wirklich ist.“
Draußen rauschte der Wind durch die Bäume. Drinnen, in der warmen Praxis, fühlte es sich für einen Moment an, als hätten sie ein kleines bisschen Kontrolle zurückgewonnen. Doch sie wussten alle, dass das täuschte.
Kapitel 17 – Überbleibsel einer alten Zeit
Die Forstpolizei existierte offiziell nicht mehr. Vor Jahren hatte die italienische Regierung sie aufgelöst und in andere Einheiten eingegliedert. Doch einige ihrer ehemaligen Mitglieder waren geblieben, versetzt in andere Abteilungen oder in die lokalen Polizeieinheiten, die sich um Umweltverbrechen, illegale Jagd oder den Schutz von Tieren kümmerten. Manche taten ihre Arbeit mit Hingabe, andere ließen sich bezahlen, um wegzusehen.
Giovanni Russo wusste nicht genau, wem er vertrauen konnte.
Er saß in einem kleinen, heruntergekommenen Café an einer Ausfallstraße von Neapel. Vor ihm stand ein halb leerer Espresso, in seinen Händen hielt er das Foto, das Luca ihm geschickt hatte. Das verblasste Brandzeichen auf der Haut des Hundes sagte ihm mehr, als er zugeben wollte. Er hatte ähnliche Zeichen schon einmal gesehen. Er wusste, was sie bedeuteten.
Kampfhundebesitzer markierten ihre Tiere. Es war eine alte Regel, die tief in den Strukturen der illegalen Hundekämpfe verwurzelt war. Ein Brandzeichen war eine Garantie, eine Besitzurkunde, ein unauslöschliches Zeichen, dass dieser Hund einem bestimmten Mann gehörte. Und in dieser Welt konnte so ein Mann ein einfacher Krimineller sein – oder jemand, den man lieber nicht verärgerte.
Giovanni hatte Kontakte bei der lokalen Polizei, bei den ASL-Veterinärbehörden und in einigen Kreisen, die sich mit den dunklen Seiten der Tierwelt auskannten. Doch das Problem war: Er wusste nicht, wer von ihnen auf wessen Seite stand.
Er nahm sein Handy heraus und wählte eine Nummer. Ein alter Kontakt bei der Polizei von Caserta, ein Mann, der früher mit der Forstpolizei zusammengearbeitet hatte. Jemand, von dem er hoffte, dass er noch immer auf der richtigen Seite stand.
„Pronto?“ Die Stimme am anderen Ende klang müde.
„Giorgio, ich brauche eine Information.“
Ein kurzes Schweigen. Dann ein Seufzen. „Worum geht es diesmal, Russo?“
„Ein Brandzeichen. Alt, aber eindeutig. Ich brauche eine Liste von Kampfhundebesitzern, die ihre Tiere so markieren.“
Giorgio lachte leise. „Du bist wieder auf der Jagd, hm? Wieso überrascht mich das nicht?“
„Hast du die Informationen oder nicht?“
Ein längeres Schweigen. Dann kam die Antwort: „Ich kann nachsehen, aber das ist heikel. Nicht alle in meinem Revier sehen solche Fragen gern.“
„Ich weiß.“ Giovanni rieb sich die Stirn. „Deshalb frage ich dich.“
„Gib mir etwas Zeit.“ Giorgio legte auf.
Giovanni starrte auf sein Handy. Er wusste, dass er sich auf eine gefährliche Spur begab. Wenn das Brandzeichen wirklich zu einem bekannten Namen gehörte, dann hatte Luca mehr aufgedeckt, als ihm vielleicht bewusst war.
Er nahm den letzten Schluck seines kalten Espressos, warf ein paar Münzen auf den Tisch und verließ das Café. Draußen wehte der warme Wind des Südens durch die engen Straßen. Irgendwo in der Ferne bellte ein Hund.
Er musste vorsichtig sein. Wenn er die falschen Fragen stellte, würde nicht nur er selbst in Gefahr geraten – sondern auch Luca und Clara.
Zur gleichen Zeit – Alessio
Alessio wusste, dass der Hund noch lebte.
Er hatte es herausgefunden, indem er in den richtigen Kreisen die falschen Fragen stellte. Die Gerüchte verbreiteten sich schnell: Ein verletzter Hund, gerettet von einer Tierärztin aus Capena. Sein Name war gefallen – Clara Wagner. Das bedeutete, dass Franco es auch wusste.
Alessio konnte nicht zulassen, dass die Frau ins Visier geriet. Er hatte den Hund aus der Arena befreit, weil er wusste, was für ein Schicksal ihn erwartete. Aber jetzt musste er sichergehen, dass er nicht nur überlebt hatte – sondern auch wirklich in Sicherheit war.
Doch das war schwieriger als erwartet.
Er hatte versucht, ihre Praxis telefonisch zu erreichen. Keine Antwort. Möglicherweise war sie gewarnt worden und hielt sich bedeckt. Vielleicht hatte sie bereits bemerkt, dass sie verfolgt wurde. Alessio hatte über einen befreundeten Tierarzt versucht, eine Nachricht an sie weiterzugeben, doch bisher ohne Erfolg.
Er wusste nicht, wem er trauen konnte. Wenn er sich zu früh offenbarte, lief er Gefahr, nicht nur Clara in Schwierigkeiten zu bringen, sondern auch sich selbst. Es gab Leute in Francos Umfeld, die immer noch nicht wussten, dass er sie verraten hatte – und das sollte auch so bleiben.
Er musste vorsichtig vorgehen. Wenn er sie fand, bevor Franco es tat, konnte er vielleicht verhindern, dass sie in etwas hineingezogen wurde, aus dem es kein Zurück mehr gab.
Er zog seine Kapuze tiefer ins Gesicht, lehnte sich an die Mauer eines verlassenen Gebäudes und beobachtete die Straße. In der Ferne sah er ein Polizeiauto vorbeifahren. Korrupt oder nicht? Schwer zu sagen.
Clara Wagner musste gewarnt werden. Und er war der Einzige, der ihr helfen konnte. Doch noch wusste sie nichts von ihm.
Kapitel 18 – Unterschlupf am Tiber
Clara und Luca waren untergetaucht. Sie wussten, dass nach ihnen gesucht wird, und das bedeutete, dass sie vorsichtig sein mussten. Jeder falsche Schritt konnte sie verraten. Sie mussten einen Ort finden, an dem sie nicht nur sicher waren, sondern auch weiter recherchieren konnten.
Der Hinweis kam von einem italienischen Tierschutzverein, mit dem Clara ab und zu in Kontakt stand: Tutto l’amore per gli animali – „All die Liebe für die Tiere“. Eine kleine Organisation, die in verschiedenen Regionen Italiens tätig war und sich für ausgesetzte und misshandelte Hunde einsetzte. Die Vorsitzende des Vereins kannte Clara gut und hatte ihr eine Adresse durchgegeben – ein Tierheim, das von einem deutschen Verein geführt wurde.
Es lag abgelegen, direkt am Tiber, umgeben von alten Bäumen und weitläufigem Land, das einst einer verlassenen Farm gehört hatte. Die Gebäude waren einfach, aber funktional: Große, offene Zwingeranlagen, ein Haupthaus für die Pfleger und ein kleines, angrenzendes Wohnhaus, das als Büro und Unterkunft für Helfer genutzt wurde. Dort gab es Internet – eine entscheidende Voraussetzung für das, was Clara und Luca vorhatten.
Sie waren in der Nacht gereist, hatten abgelegene Straßen genutzt, sich mehrfach vergewissert, dass sie nicht verfolgt wurden, und erst nach einer langen Fahrt das Gelände des Tierheims erreicht. Es lag in einer Senke, abseits der Hauptstraße, umgeben von hügeligem Gelände und Wäldern. Ein perfekter Ort, um eine Weile unterzutauchen.
Als sie das Tierheim erreichten, erwartete sie bereits eine Frau mittleren Alters mit kurzem, dunklem Haar und einer ruhigen, freundlichen Ausstrahlung. Sie stellte sich als Nicoletta vor, die Leiterin des Heims. Ihr Blick war aufmerksam, aber sie stellte keine Fragen, die über das Nötige hinausgingen. Vielleicht wusste sie, dass es besser war, manche Dinge nicht zu hinterfragen.
„Ihr könnt hierbleiben, solange ihr müsst“, sagte sie, während sie sie hineinführte. „Wir haben ein Gästezimmer, es ist einfach, aber es reicht. Und ihr habt Zugang zu unserem Büro, falls ihr arbeiten müsst.“
Clara nickte dankbar. Sie spürte die Anspannung in ihrem Körper, doch für einen Moment ließ die Umgebung sie durchatmen. Der Geruch nach frischer Erde, das leise Bellen der Hunde aus den Zwingern – es fühlte sich fast normal an. Doch sie wusste, dass die Gefahr noch lange nicht vorüber war.
Während sie durch das Tierheim geführt wurden, konnte Clara nicht anders, als die Hunde in den Gehegen zu betrachten. Viele von ihnen waren ehemalige Straßenhunde, andere kamen aus schlechten Haltungen oder wurden von Jägern ausgesetzt. Es war ein vertrauter Anblick – doch dieses Mal war ihr Kopf zu voll mit Gedanken, um sich auf das zu konzentrieren, was sie sonst so sehr bewegte.
Im Büro angekommen, setzte sich Luca an den alten Holztisch, klappte sein Laptop auf und warf einen Blick auf das Foto des Brandzeichens. Es erschien noch immer als Rätsel, ein Fragment aus einer dunklen Vergangenheit, das sich vor ihnen entfaltete.
„Wir müssen herausfinden, wer dieses Zeichen benutzt“, sagte er. „Und wir müssen es tun, bevor sie uns finden.“
Nicoletta trat zu ihnen und stellte eine dampfende Tasse Kaffee auf den Tisch. „Falls ihr etwas braucht, lasst es mich wissen. Und seid vorsichtig. Es gibt Menschen, die nicht wollen, dass solche Dinge ans Licht kommen.“
Clara schaute von ihrem Bildschirm auf und traf Nicolettas Blick. Sie nickte langsam. „Wir wissen es.“
Luca drehte das Laptop leicht, sodass sie beide das Bild betrachten konnten. Das Brandzeichen war fast erloschen, doch es war da. Ein Symbol aus der Vergangenheit, das mit den dunklen Machenschaften verknüpft war, gegen die sie kämpften.
Clara atmete tief durch. „Dann fangen wir an.“
Kapitel 19 – Neapel
Neapel bei Nacht war eine Stadt voller Gegensätze. Die engen Gassen waren noch immer belebt, Lichter spiegelten sich in den nassen Pflastersteinen, Motorräder heulten in der Ferne auf. An den Straßenecken standen Männer, die Zigaretten rauchten, sprachen, beobachteten. Manche handelten mit illegalen Waren, andere tauschten Informationen aus, von denen niemand offiziell wissen durfte. Hier gab es keine Geheimnisse – nur Dinge, über die man nicht sprach.
Giorgio Ferrante wusste das besser als jeder andere.
Er saß in seinem Büro im Polizeipräsidium von Neapel, ein karges, mit Akten überfülltes Zimmer, das nach kaltem Kaffee und Druckertinte roch. Auf dem Bildschirm seines Computers flackerte das Foto, das er von Giovanni Russo erhalten hatte. Das Brandzeichen auf der Schulter des Hundes war alt, aber unverkennbar. Giorgio kannte es – oder besser gesagt, er wusste, wofür es stand.
Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, rieb sich nachdenklich über das Gesicht und nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette. Diese Spur war gefährlich. Sehr gefährlich.
Er kannte einige der Männer, die ihre Hunde so markierten. Es war ein System, das in den tiefsten Kreisen der illegalen Hundekämpfe existierte. Die Brandzeichen waren eine Art Signatur, die den Besitzern die Kontrolle über ihre Tiere sicherte. Ein Hund mit einem solchen Zeichen gehörte jemandem – jemandem, der bereit war, über Leichen zu gehen, um ihn zurückzubekommen.
Giorgio hatte sich in seiner Karriere oft genug mit den Abgründen dieser Stadt auseinandergesetzt. Er wusste, dass diese Kämpfe nicht nur in schmutzigen Hinterhöfen stattfanden. Nein, es war größer. Organisierter. Die Einsätze gingen oft in die Tausende, manchmal Zehntausende. Und es gab Männer, die ihre gesamte Existenz darauf aufgebaut hatten.
Er nahm sein Handy und scrollte durch seine Kontakte. Es gab nur wenige Leute, mit denen er darüber reden konnte. Die meisten Kollegen waren entweder korrupt oder zu ängstlich, um sich mit diesen Kreisen anzulegen. Die Frage war: Wer wusste mehr? Und wer konnte ihm helfen, ohne dass es ihm selbst den Kopf kostete?
Er wählte eine Nummer. Es dauerte nur zwei Klingeltöne, bis sich am anderen Ende eine raue Stimme meldete.
„Ferrante. Ich dachte, du wärst endlich in Pension.“
Giorgio verzog keine Miene. „Gino, ich brauche Informationen.“
Ein kurzes Schweigen. Dann das Geräusch eines Feuerzeugs, eine tiefe Einatmung. „Worum geht’s?“
„Ein Brandzeichen auf einem Hund. Alt, aber speziell. Ich habe eine Ahnung, dass es zu einem bestimmten Netzwerk gehört.“
„Welche Art von Netzwerk?“
Giorgio sah noch einmal auf den Bildschirm. Das Foto schien ihn anzustarren. „Hundekämpfe. Und nicht die kleinen Straßenwettkämpfe, von denen jeder weiß. Ich rede von den großen Arenen.“
Gino lachte leise. „Da rührst du an einem verdammt großen Haufen Scheiße, mein Freund.“
„Ich brauche einen Namen, Gino. Irgendjemand muss dieses Zeichen verwenden.“
Ein weiteres Schweigen. Dann, mit leiser Stimme: „Ich rufe dich zurück. Und Ferrante – wenn ich du wäre, würde ich mir überlegen, ob ich das wirklich wissen will.“
Das Gespräch endete abrupt. Giorgio legte das Telefon auf den Tisch, nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette und blies den Rauch langsam in die Luft.
Er wusste, dass er eine Tür aufgestoßen hatte, die vielleicht besser geschlossen geblieben wäre.
Zur gleichen Zeit – Alessio
Alessio wusste, dass die Zeit knapp wurde.
Er hatte Gerüchte gehört, aufgeschnappt aus den falschen Kreisen, dass Franco immer noch nach dem Hund suchte. Und nach der Frau, die ihn gerettet hatte – Clara Wagner. Dass sie untergetaucht war, war das Beste, was ihr passieren konnte. Aber sie wusste nicht, was auf sie zukam. Und das musste sich ändern.
Alessio hatte verschiedene Wege versucht, sie zu kontaktieren. Ihr Handy? Ausgeschaltet. Ihre Tierarztpraxis? Verlassen. Selbst über Mittelsmänner in den Tierschutzkreisen konnte er keine brauchbaren Informationen bekommen. Niemand wusste, wo sie war – oder wollte es ihm sagen.
Er saß in seinem alten, abgenutzten Fiat, geparkt in einer dunklen Seitenstraße am Rande von Rom. Die Fenster waren heruntergekurbelt, und der kühle Nachtwind zog durch das Auto. Auf dem Beifahrersitz lag sein Handy, das Display beleuchtet mit einer einzigen Nachricht: „Sie ist verschwunden. Niemand weiß, wohin.“
Er fluchte leise. Clara musste gefunden werden – bevor Franco es tat.
Alessio war nicht dumm. Er wusste, dass er sich damit in Gefahr brachte. Wenn herauskam, dass er hinter dieser Sache her war, konnte es sein Todesurteil bedeuten. Aber er hatte diesen Hund nicht gerettet, nur um zuzusehen, wie er wieder in Francos Hände fiel. Oder schlimmer – wie eine unschuldige Frau für etwas sterben musste, das sie nicht einmal verstand.
Er startete den Motor und fuhr los. Es gab noch eine Möglichkeit. Ein Mann, den er lange nicht mehr aufgesucht hatte, aber der Verbindungen hatte – zu den richtigen und den falschen Leuten.
Wenn jemand wusste, wo Clara Wagner war, dann er.
Kapitel 20 – Der lange Kampf des Tierschutzes
Seit Jahren kämpfte der italienische Tierschutzverein Tutto l’amore per gli animali darum, Zugang zu den Hundelagern des Landes zu erhalten. Die Lage war kompliziert. Offiziell gab es strenge Vorschriften, doch in der Realität wurden diese oft umgangen. Viele Lager waren nichts anderes als riesige Verwahranstalten, in denen Hunde unter schlimmsten Bedingungen gehalten wurden. Einmal dort gelandet, hatten sie oft keine Chance mehr auf ein normales Leben.
Die Mitglieder des Vereins hatten sich den Zutritt zu einigen dieser Lager hart erkämpft. Sie hatten Klagen eingereicht, Behörden unter Druck gesetzt und sich nicht selten mit Bürgermeistern und lokalen Verwaltungen angelegt. Manche dieser Politiker hatten ein Interesse daran, dass die Zustände in den Lagern nicht hinterfragt wurden – schließlich flossen öffentliche Gelder in diese Einrichtungen, und nicht selten landete ein Teil davon in den Taschen von Geschäftsleuten und Politikern.
Doch die Tierschützer gaben nicht auf. Sie dokumentierten die Zustände in den Lagern akribisch. Jedes Mal, wenn sie Zugang erhielten, fotografierten sie die Hunde, katalogisierten sie nach Alter, Gesundheitszustand und Verhalten. Diese Daten wurden an ihren befreundeten deutschen Tierschutzverein weitergegeben – Sonnenaufgang für Hunde – Alba per cani.
Der deutsche Verein arbeitete seit Jahren mit ihnen zusammen und hatte ein starkes Netzwerk von Pflegestellen und Adoptanten in Deutschland, der Schweiz, Österreich und den Niederlanden aufgebaut. Sie schafften es, viele der Hunde aus diesen Lagern in ein besseres Leben zu vermitteln. Doch gerade diese Arbeit machte sie bei den Lagerbetreibern nicht beliebt.
Denn jeder Hund, der vermittelt wurde, bedeutete für die Betreiber der Lager einen finanziellen Verlust. Sie bekamen pro Hund täglich eine feste Summe von den italienischen Regionen – oft bis zu fünf Euro pro Tier. Bei Lagern mit mehreren hundert oder gar tausend Hunden kamen so erhebliche Beträge zusammen. Ein Hund, der adoptiert wurde, war ein Hund, der kein Geld mehr brachte.
Daher wurden die deutschen Tierschützer und ihre italienischen Partner oft mit Misstrauen betrachtet. Einige Lagerbesitzer ließen sie nur widerwillig hinein, andere verweigerten ihnen gänzlich den Zutritt oder versuchten, ihnen Steine in den Weg zu legen. Es gab Drohungen, Einschüchterungen, und es wurde mit allen Mitteln versucht, ihre Arbeit zu erschweren.
Doch das Netzwerk der Tierschützer wuchs. Immer mehr Menschen in Deutschland, der Schweiz, Österreich und den Niederlanden engagierten sich und ermöglichten es, Hunde aus diesen unwürdigen Verhältnissen zu befreien. Der Widerstand gegen die Lager nahm zu, auch in Italien. Aber es blieb ein gefährliches Spiel – denn hinter vielen dieser Einrichtungen standen Menschen, die sich nicht scheuten, mit allen Mitteln ihre Interessen zu verteidigen.
Und nun, mit dem Hund, den Clara gerettet hatte, und dem Brandzeichen auf seiner Schulter, rückte eine Wahrheit näher, die viele lieber verborgen gehalten hätten.
Kapitel 21 – Die fehlende Nummer
Das Lager lag abgeschottet in der kargen Landschaft, umgeben von einer hohen, grauen Mauer, die an vielen Stellen mit rostigem Stacheldraht versehen war. Oben auf der Mauer verlief ein Streifen aus Z-Draht, scharf und abweisend. Außen an der Mauer prangten verwitterte Schilder mit fetten roten Buchstaben:
ACHTUNG QUARANTÄNE-GEFAHR!
SEUCHENGEBIET – ZUTRITT VERBOTEN!
Die Worte sollten abschrecken. Niemand sollte Fragen stellen. Niemand sollte sich zu nahe heranwagen. Hinter der Mauer verbargen sich hunderte Hunde, doch von außen war nichts zu sehen. Keine Blicke nach innen, keine Geräusche drangen nach draußen. Die Zufahrt wurde von einem schweren, elektrischen Metalltor bewacht, das nur aufging, wenn der Betreiber es genehmigte.
Die Mitglieder von Tutto l’amore per gli animali hatten den Zugang zu diesem Lager jahrelang erkämpft. Und jedes Mal, wenn sie hier waren, spürten sie die Kälte dieses Ortes. Es war ein Ort des Vergessens, ein Lager, in dem Hunde nicht lebten, sondern nur existierten.
Als sie durch das Tor traten, mit Klemmbrettern und Kameras bewaffnet, wussten sie, dass sie sich erneut auf eine Auseinandersetzung vorbereiten mussten. Die Hunde in den Käfigen – enge, feuchte Zellen ohne Licht – waren stiller als anderswo. Viele lagen regungslos da, manche schienen nicht einmal mehr zu bemerken, dass sich etwas tat. Sie hatten resigniert.
Doch diesmal gab es eine Besonderheit.
Ein Hund fehlte.
Ein großer Rüde, den sie seit Monaten beobachtet und katalogisiert hatten. Seine Registrierungsnummer stand auf jeder Liste, doch der Käfig war leer. Kein Eintrag über eine Adoption, kein Transfer in ein anderes Lager. Er war einfach verschwunden.
Einer der Tierschützer – ein erfahrener Mann, der bereits viele dieser Orte gesehen hatte – wandte sich an den Lagerleiter, einen bulligen Mann mit wettergegerbtem Gesicht und einem Blick, der keine Diskussion zuließ.
„Wo ist der Hund?“
Der Mann lehnte sich gegen eine Metallstange, zog genüsslich an seiner Zigarette und musterte sie abschätzig. „Welcher Hund?“
„Der Rüde, der hier war. Er steht auf unserer Liste. Seine Nummer fehlt.“
Ein dünnes Lächeln huschte über das Gesicht des Lagerleiters. „Hunde verschwinden.“
„Ohne offizielle Papiere? Ohne Dokumentation?“ Die Stimme der Tierschützerin blieb ruhig, doch ihre Haltung war angespannt. „Das ist ein Verstoß gegen die Vorschriften.“
Der Mann trat einen Schritt näher, seine Augen blitzten. „Ihr habt euren Zugang. Nutzt ihn. Aber wenn ihr denkt, dass ihr hier die Regeln macht, dann liegt ihr falsch.“
Eine bedrohliche Stille legte sich über den Moment. Die Tierschützer kannten dieses Spiel. Drohungen, Einschüchterungen – es war immer dasselbe. Doch diesmal wussten sie, dass dieser Hund nicht einfach verschwunden war.
Noch am selben Abend setzten sie sich mit dem deutschen Verein Sonnenaufgang für Hunde – Alba per cani in Verbindung. Das Tierheim am Tiber gehörte dem deutschen Verein, und sie wussten, warum Clara und Luca dort untergetaucht waren. Doch nun stellte sich eine neue Frage: Sollten sie sich direkt einmischen?
Zoom-Call des deutschen Vereins – Eine hitzige Entscheidung
Am selben Abend saßen über sechzig Mitglieder von Alba per cani an ihren Bildschirmen, verstreut über ganz Deutschland, Österreich und die Schweiz. Die Gesichter waren ernst, die Stimmung aufgeheizt. Dies war keine normale Tierschutzdiskussion über Transporte, Vermittlungen oder Futterlieferungen. Dies war eine Entscheidung mit Konsequenzen.
„Wenn wir uns einmischen, dann setzen wir unsere gesamte Arbeit aufs Spiel!“, sagte eine Frau mit scharf geschnittenen Zügen. „Wir kämpfen seit Jahren darum, überhaupt in diese Lager zu kommen! Wenn wir uns mit diesen Leuten anlegen, werden sie uns von überall ausschließen.“
Ein anderer Mann, Mitte fünfzig mit tiefen Sorgenfalten, verschränkte die Arme. „Und wenn wir nichts tun? Dieser Hund ist nicht einfach verschwunden. Wir wissen alle, was das bedeutet.“
„Ja, aber das hier ist nicht nur Tierschutz“, meldete sich eine jüngere Stimme aus dem Hintergrund. „Das ist organisierte Kriminalität! Wer sagt uns, dass wir damit nicht alles verlieren?“
Es entstand eine hitzige Debatte. Manche waren entschlossen, nach Italien zu reisen, um die Situation vor Ort zu untersuchen. Andere waren verunsichert – sie hatten jahrelang darum gekämpft, in den Lagern akzeptiert zu werden. Würde eine direkte Konfrontation ihre gesamte Arbeit zunichtemachen?
Ein älteres Mitglied, das schon viele Rettungsaktionen begleitet hatte, hob schließlich die Hand. „Wir stehen an einem Punkt, an dem wir uns entscheiden müssen. Entweder wir riskieren etwas – oder wir schauen weg.“
Eine angespannte Stille legte sich über den Call. Dann ergriff die Vorsitzende das Wort. Ihre Stimme war ruhig, aber bestimmt.
„Jeder, der bereit ist, nach Italien zu gehen, soll es jetzt sagen. Wir brauchen Klarheit. Wer bleibt, bleibt. Wer fährt, fährt. Aber wir müssen das heute entscheiden.“
Einige Sekunden lang sagte niemand etwas. Dann hob eine Hand sich. Dann noch eine. Ein drittes Mitglied meldete sich. Schließlich waren es achtzehn Leute, die bereit waren, nach Italien zu reisen.
Die Entscheidung war gefallen.
Die Anspannung im Raum war greifbar. Alle wussten, dass dies mehr war als nur ein weiterer Tierschutzeinsatz. Niemand sagte es laut, aber allen war klar: Diese Reise würde gefährlicher werden als jede Rettungsaktion zuvor.
Kapitel 22 – Entscheidungen im Verborgenen
Die Nacht war still am Tiber. Nur das leise Plätschern des Wassers und das gelegentliche Bellen eines Hundes durchbrachen die Dunkelheit. Im Tierheim von Alba per cani brannte noch Licht. Clara und Luca saßen im kleinen Büro, das Nicoletta ihnen zur Verfügung gestellt hatte. Vor ihnen lag das ausgedruckte Foto des Brandzeichens, daneben Lucas Notizen und Claras Berichte über die Wunden des Hundes.
Seit ihrer Ankunft hatten sie sich in der Sicherheit des Tierheims versteckt gehalten, doch mit jedem Tag wurde klarer: Sie konnten nicht einfach nur abwarten. Sie würden nicht aufhören zu suchen, und die Tatsache, dass das Brandzeichen nun auch in den Händen von Giorgio Ferrante war, bedeutete, dass sie unter Zugzwang standen.
„Wir brauchen eine Spur“, sagte Clara schließlich und rieb sich die Schläfen. „Etwas, das uns hilft, dieses Brandzeichen zurückzuverfolgen. Wir können nicht warten, bis jemand anderes es für uns herausfindet.“
Luca nickte und zog sein Laptop näher zu sich. „Giorgio arbeitet an seiner Seite daran, aber ich will sehen, ob ich eine andere Quelle finde.“ Er tippte ein paar Suchbegriffe in eine gesicherte Datenbank ein, die er über seine journalistischen Kontakte nutzen konnte. „Es gibt alte Berichte über illegale Kampfringe in Kampanien und Latium. Manche Hunde wurden später in Lagern gefunden – mit ähnlichen Brandzeichen. Vielleicht gibt es eine Verbindung.“
Clara lehnte sich vor. „Und wenn ja?“
Luca zögerte. „Dann müssen wir tiefer graben. Aber das bedeutet, dass wir unser Versteck verlassen müssen.“
Clara schwieg. Sie wusste, dass es riskant war. Doch sie wusste auch, dass sie die Wahrheit nicht herausfinden würden, wenn sie sich nur versteckten.
„Wir müssen rausfinden, woher dieser Hund kam“, sagte sie schließlich. „Und warum er so wichtig ist.“
Alessio – Der Schatten in Rom
Zur gleichen Zeit saß Alessio in einem kleinen Café in Rom, unauffällig platziert in einer Seitengasse, in der nur wenige Menschen unterwegs waren. Vor ihm lag sein Handy, doch bisher hatte er keinen Weg gefunden, Clara zu kontaktieren. Ihr Handy blieb ausgeschaltet, ihre Praxis war verlassen. Aber er wusste, dass sie nicht verschwunden war.
Er hatte Gerüchte gehört. Dass eine deutsche Frau mit einem italienischen Mann unterwegs war. Dass sie Schutz in einem Tierheim suchten, das von einem deutschen Verein betrieben wurde.
Er brauchte Bestätigung. Und er musste schnell sein. Franco ließ seine Leute bereits nach ihr suchen.
Alessio nahm einen tiefen Zug seines Espressos, ließ den Blick über die Straße gleiten. Er hatte eine Entscheidung getroffen.
Er musste sie finden – bevor Franco es tat.
Und dafür musste er ein Risiko eingehen.
Er zog sein Handy näher zu sich und tippte eine Nachricht in ein sicheres Forum, das von Tierschützern genutzt wurde. Er wählte seine Worte sorgfältig:
„Sucht nach Clara Wagner. Tierärztin. Vermutlich in Sicherheit, aber Gefahr nähert sich. Muss sie dringend sprechen. Kontakt herstellen?“
Er schickte die Nachricht ab und lehnte sich zurück.
Jetzt konnte er nur warten – und hoffen, dass jemand antwortete, bevor es zu spät war.
Zur gleichen Zeit – Eine Spur in Neapel
Luca hatte das Bild des Brandzeichens einem alten Freund geschickt – einem investigativen Journalisten, der tief in den dunklen Strukturen Italiens recherchierte. Dieser Freund wusste, wie man Dinge in Bewegung brachte.
Und er hatte es der Polizei in Neapel weitergeleitet.
Nun, Stunden später, saß Giorgio Ferrante in seinem Büro und betrachtete das Bild erneut. Er hatte bereits begonnen, alte Akten durchzusehen, sich durch Berichte aus den letzten Jahren zu arbeiten.
Dann fiel ihm etwas auf.
Ein ähnliches Brandzeichen war vor Jahren in einem Fall aufgetaucht, der nie gelöst wurde. Ein Hund, der nach einem illegalen Kampf in einem Straßengraben gefunden wurde.
Und noch beunruhigender war der Name, der mit diesem Fall in Verbindung stand: Franco Moretti.
Zur gleichen Zeit – Gefahr nähert sich
In einer dunklen Gasse in Neapel klingelte ein Mobiltelefon. Eine tiefe Stimme meldete sich, hörte schweigend zu, dann nickte der Mann langsam.
„Ich weiß, wo sie sind.“
Er legte auf.
Dann startete er den Motor seines Wagens – und fuhr los.
Kapitel 23 – Vorbereitung auf Italien
Der Vereinssitz von Alba per cani lag auf einem großen Resthof, umgeben von weiten Feldern und alten Bäumen. Die Scheune, die normalerweise als Lager für Futter- und Sachspenden diente, war an diesem Tag der Mittelpunkt aller Vorbereitungen. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, als die Mitglieder des Vereins eintrafen, manche mit ernster Miene, andere mit konzentrierter Entschlossenheit. Dies war keine gewöhnliche Fahrt. Jeder wusste, dass diesmal mehr auf dem Spiel stand als sonst.
Fünf große Transporter standen bereit, die seit Jahren für die Fahrten nach Italien genutzt wurden. Sie waren verlässlich, ausgerüstet für lange Strecken und mit allem versehen, was für die Versorgung der Hunde nötig war. Neben ihnen parkten zwei private Fahrzeuge – unauffällige Modelle, die sich problemlos in den italienischen Straßenverkehr einfügen würden.
Insgesamt 18 Personen hatten sich für diese Fahrt gemeldet: 12 Männer, 6 Frauen – alle erfahren, alle seit Jahren im Tierschutz aktiv, alle ehrenamtlich. Jeder von ihnen hatte unzählige Kilometer auf italienischen Straßen hinter sich, sie kannten die Wege, die Grenzen, die Besonderheiten jedes Transports. Routen mussten nicht besprochen werden – sie kannten den Weg in ihr Tierheim am Tiber.
Zusätzlich zur internen WhatsApp-Gruppe, über die sie ständig miteinander verbunden waren, hatten alle Transporter CB-Funk an Bord, um unterwegs schnell kommunizieren zu können. Die Erfahrung hatte gezeigt, dass auf den langen Strecken durch Italien manchmal Funk die einzige Möglichkeit war, sich abzusprechen.
Unter den Fahrern waren auch zwei Männer, die in Deutschland aktiv im Polizeidienst standen. Offiziell waren sie als Privatpersonen unterwegs, doch ihr Wissen über Sicherheit und Taktik würde der Gruppe helfen, falls sie in eine Situation gerieten, in der sie sich schützen mussten.
Die Stimmung war angespannt, aber nicht panisch. Jeder wusste, dass sie sich möglicherweise in etwas begaben, das weit über eine gewöhnliche Rettungsaktion hinausging. Doch sie waren sich einig – sie würden nicht einfach wegsehen.
Ein letztes Mal wurden die Transporter überprüft. Treibstoff, Wasser, Verpflegung, Notfallausrüstung. Alles war vorbereitet. Nicoletta, die bereits in Italien auf sie wartete, hatte ihnen mitgeteilt, dass die Lage angespannt war. Doch das änderte nichts an ihrer Entscheidung.
„Wer nicht fährt, sagt es jetzt“, sagte die Vorsitzende des Vereins in die Runde.
Niemand sagte ein Wort.
Dann wurden die Motoren gestartet. Die ersten Transporter rollten vom Hof, gefolgt von den Privatfahrzeugen. Es war eine Fahrt, die sie schon oft gemacht hatten – und doch war diesmal alles anders.
In wenigen Stunden würden sie italienischen Boden erreichen – und dort wartete eine Situation, die sie nicht vollständig kontrollieren konnten.
Erleichterung in Italien
Als die Nachricht das Tierheim am Tiber erreichte, atmeten Clara und Luca zum ersten Mal seit Tagen auf. Sie wussten, dass die Situation gefährlich war, doch jetzt hatten sie Unterstützung. Die Tatsache, dass der deutsche Verein tatsächlich handelte und die Reise antrat, bedeutete, dass sie nicht mehr allein in dieser Sache standen.
Clara stand am Fenster des kleinen Büros und blickte hinaus auf die weitläufigen Gehege, in denen einige Hunde lagen und dösten. Luca saß am Tisch, sein Laptop vor sich, doch er hatte aufgehört zu arbeiten. Stattdessen drehte er sein Handy in den Händen, als könnte er die Unsicherheit mit Bewegung vertreiben.
„Sie sind auf dem Weg“, sagte er leise und sah zu Clara.
Sie nickte langsam. „Das wird helfen. Das wird alles verändern.“
Auch der italienische Verein Tutto l’amore per gli animali reagierte mit Erleichterung. Sie wussten, dass sie allein nur wenig ausrichten konnten – zu viele Lagerleiter waren korrupt, zu viele Behörden sahen weg. Doch mit den Deutschen an ihrer Seite hatten sie eine stärkere Position. Vielleicht konnten sie diesmal wirklich Druck ausüben, vielleicht würden sie Antworten bekommen.
Ein Mitglied des italienischen Vereins schrieb in die gemeinsame Chatgruppe: „Sie kommen. Sie haben fünf Transporter und zwei Fahrzeuge. Wir sind nicht mehr allein.“
Die Antwort kam sofort. „Endlich.“
Kapitel 24 – Alessios Suche
Alessio ließ sein Handy nicht aus den Augen. Er hatte alle seine Kontakte genutzt, alte Bekannte aus dem Tierschutznetzwerk, Informanten, die sich in den dunkleren Ecken Roms bewegten. Doch niemand konnte ihm eine sichere Antwort geben, wo Clara und Luca waren. Es war, als hätten sie sich in Luft aufgelöst.
Er fuhr durch die Straßen der Stadt, hielt an den wenigen Orten, an denen er sich noch sicher fühlte. Ein paar Tierärzte, die mit dem Tierschutz verbunden waren, einige Aktivisten, die sich für die Streuner Roms einsetzten – aber niemand wusste etwas. Oder sie wollten nichts sagen.
Die Zeit lief ihm davon. Franco ließ nach ihnen suchen, und Alessio wusste, was das bedeutete. Wenn sie Clara fanden, bevor er es tat, war ihr Schicksal besiegelt.
Er zog sein Handy aus der Jackentasche, scrollte durch alte Nachrichten, als das Display plötzlich aufleuchtete.
Eine Antwort auf seine Nachricht.
„Ich weiß, wo sie sind. Komm zu mir.“
Alessio spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Er starrte auf die Nummer – unbekannt. Kein Name, keine weiteren Informationen. Er hätte vorsichtig sein sollen. Er hätte die Nachricht hinterfragen sollen.
Doch er hatte keine Zeit. Wenn es eine Chance war, Clara zu erreichen, musste er sie nutzen.
Er antwortete kurz. „Wo?“
Die Antwort kam sofort.
„Die bekannte verlassene Werkstatt am Stadtrand. Komm allein.“
Jede Alarmglocke in seinem Kopf schrillte. Das war zu einfach. Zu direkt. Doch wenn es eine Falle war – warum dann diese Eile? Warum nicht einfach still bleiben und ihn weiter im Dunkeln lassen?
Er schob sein Handy in die Jacke, startete den Motor und fuhr los. Die Straßen wurden schmaler, dunkler. Die Werkstatt lag außerhalb der Stadt, ein Ort, an dem niemand Fragen stellte.
Als er ankam, war die Gegend verlassen. Ein altes Gebäude mit zerbrochenen Fenstern, ein rostiges Tor, das halb offenstand. Sein Puls raste.
Langsam stieg er aus dem Auto, ließ den Motor laufen. Er bewegte sich vorsichtig, scannte die Umgebung.
Dann trat eine Gestalt aus den Schatten.
„Alessio.“
Die Stimme war ruhig, aber da war etwas in ihr – ein Unterton, der ihm nicht gefiel.
Er spannte sich an. „Wer bist du?“
Der Mann trat näher, hielt die Hände scheinbar entspannt in den Taschen. Doch Alessio wusste es besser. Das hier war kein Freund.
„Ich bin jemand, der dir helfen kann.“ Ein kurzes Lächeln, das nicht die Augen erreichte. „Oder jemand, der dich heute Nacht verschwinden lassen könnte.“
Alessio blieb stehen, spürte, wie sich die Luft um ihn herum verdichtete.
Dann erkannte er den Mann.
Massimo. Einer von Francos Schergen.
Alessios Kiefer spannte sich an. Er kannte Massimo nicht gut, aber er hatte ihn in den Kreisen um Franco oft genug gesehen. Ein Mann, der nicht sprach, wenn er nicht musste. Einer, der lieber beobachtete, bevor er handelte.
„Ich habe keine Zeit für Spielchen, Massimo“, sagte Alessio und zwang sich zur Ruhe. „Entweder du sagst mir, was du weißt, oder ich bin weg.“
Massimo lachte leise. „Immer so ungeduldig. Ich habe deine Nachricht gelesen. Und sagen wir… es gibt Leute, die denken, dass du zu viel weißt.“
Ein kaltes Prickeln lief Alessio den Rücken hinunter. „Also bist du hier, um mich zu warnen?“
Massimo trat einen Schritt näher, sein Gesicht blieb im Schatten. „Vielleicht. Oder vielleicht will ich nur wissen, ob du dumm genug bist, allein herzukommen.“
Ein Motor heulte in der Ferne auf. Alessios Blick zuckte kurz zur Straße. Zu kurz. In diesem Moment bewegte sich Massimo – nicht schnell, nicht abrupt, sondern mit einer bedrohlichen Gelassenheit, die gefährlicher war als jede Drohung.
„Steig ein, Alessio“, sagte Massimo und deutete auf ein schwarzes Auto, das am Straßenrand parkte. „Ich bringe dich zu jemandem, der dich sprechen will.“
Alessio wusste, dass er eine Wahl hatte. Gehen – und riskieren, dass Massimo ihn trotzdem verfolgte. Oder einsteigen – und herausfinden, ob es eine letzte Chance gab, Clara und Luca zu retten.
Er sah Massimo in die Augen. Dunkel, ausdruckslos.
War dies der Moment, in dem sich alles entschied?
Kapitel 25 – Ein sicherer Ankerplatz
Die Motoren verstummten nacheinander, als die Fahrzeuge des deutschen Vereins Alba per cani auf dem Hof des Tierheims am Tiber zum Stehen kamen. Nach der langen Fahrt stiegen die Tierschützer aus, streckten sich, sahen sich um. Die Atmosphäre war angespannt, aber entschlossen – sie waren hier, um zu helfen. Doch wie genau sie das tun konnten, war noch unklar.
Nicoletta, die Mitglieder des italienischen Vereins Tutto l’amore per gli animali , sowie Clara und Luca erwarteten sie bereits. Nach einer kurzen Begrüßung wurde keine Zeit verloren. Die Lage wurde sachlich, aber eindringlich erklärt: Die Bedrohung, das mysteriöse Brandzeichen auf dem Hund, die zwielichtige Rolle der Lager und die Gefahr für Clara und Luca. Alle hörten aufmerksam zu. Einige nickten, andere schüttelten besorgt den Kopf.
„Als Erstes müssen wir den Hund in Sicherheit bringen“, sagte Nicoletta schließlich. „Wir können ihn nicht bei Stefania lassen. Es gibt zu viele Augen, zu viele offene Fragen.“
Die Entscheidung war schnell gefallen. Der namenlose Hund war seit der Rettung bei Stefania, die sich um seine Wunden gekümmert und ihn aufgepäppelt hatte. Nun sollte er ins deutsche Tierheim am Tiber gebracht werden – Ancoraggio sicuro per cani, der sichere Ankerplatz für Hunde. Dort würde er besser geschützt sein und nicht mehr in Gefahr schweben.
Die Tierschützer machten sich auf den Weg zu Stefanias Praxis. Dort angekommen, begrüßte Stefania sie mit einem ernsten Gesichtsausdruck. „Er ist stabil“, sagte sie und führte sie ins Behandlungszimmer, wo der große Hund auf einer Decke lag. Sein Blick war wach, aufmerksam. Er hatte sich seit seiner Rettung verändert – seine Körperhaltung war entspannter, sein Blick nicht mehr voller Misstrauen.
„Er hat gut gefressen, seine Wunden heilen schnell“, berichtete Stefania. „Aber er braucht einen Ort, an dem er nicht mehr versteckt werden muss.“
Die Gruppe machte sich bereit, den Hund auf die nächste Etappe seiner Reise mitzunehmen. Behutsam wurde er in einen der geräumigen Transporter geführt, und diesmal wirkte er nicht mehr so unsicher wie zuvor. Es war fast, als hätte er verstanden, dass diese Menschen auf seiner Seite waren.
Die Fahrt zurück zum Tierheim am Tiber verlief ruhig. Der Hund lag entspannt auf einer weichen Decke im Transporter, seine Augen aufmerksam, aber nicht mehr voller Angst. Seit seiner Rettung hatte er sich verändert. Doch etwas fehlte noch – ein Name.
Als sie in Ancoraggio sicuro per cani ankamen, wurden sie bereits erwartet. Die Anlage war groß, gut gesichert, mit weiten Freiläufen und festen Gebäuden, die den Hunden Schutz boten. Kein Vergleich zu den Lagern, aus denen so viele Tiere gerettet wurden. Hier war es anders – hier war es ein Zuhause.
Der Hund wurde vorsichtig aus dem Transporter gelassen. Er hob den Kopf, schnupperte in der Luft, und für einen Moment schien es, als würde er verstehen, dass er an einem Ort war, an dem ihm nichts mehr passieren konnte.
Am Abend versammelten sich Clara und Luca, die deutschen und italienischen Tierschützer zur Besprechung. Die Frage war klar: Was tun sie als Nächstes?
Clara saß auf einem Heuballen im Innenhof und betrachtete den Hund, der ruhig neben ihr lag. Es fühlte sich falsch an, ihn immer noch nur als „den Hund“ zu bezeichnen. Er hatte überlebt, er hatte durchgehalten. Er verdiente einen Namen.
„Hope“, sagte sie plötzlich leise.
Luca sah auf. „Wie Hoffnung?“
Clara nickte. „Ja. Er ist ein Zeichen dafür, dass es sich lohnt zu kämpfen. Für ihn. Für die anderen.“
Die anderen hörten zu. Dann nickten einige. Nicoletta lächelte.
„Hope“, wiederholte jemand.
Der Hund hob kurz den Kopf, als hätte er verstanden. Und von diesem Moment an war er nicht mehr namenlos.
Er war Hope.
Kapitel 26 – Ein unerwarteter Verbündeter
Giorgio Ferrante saß in seinem Büro und drehte sein Handy langsam zwischen den Fingern. Vor ihm lag eine Notiz mit einer Telefonnummer – eine Nummer, die ihm ein Polizist aus Neapel gegeben hatte. Ein Kontakt in Rom. Kein gewöhnlicher Beamter, sondern ein ranghoher Polizist, der die Mittel und den Einfluss hatte, um gegen Franco Moretti und seine Machenschaften vorzugehen.
Giorgio wusste, dass dies ein riskanter Schritt war. Wenn dieser Mann nicht vertrauenswürdig war, setzte er nicht nur sich selbst, sondern auch all jene aufs Spiel, die in diese Sache verwickelt waren. Doch wenn er nichts tat, würde Franco weiter ungestört seine blutigen Geschäfte führen.
Er atmete tief durch und wählte die Nummer.
Es klingelte nur zweimal. Dann meldete sich eine ruhige, tief klingende Stimme. „Ja?“
„Giorgio Ferrante, investigativer Journalist. Mir wurde gesagt, Sie sind jemand, der helfen kann.“
Eine kurze Pause. Dann: „Wer hat Ihnen meine Nummer gegeben?“
„Ein Kontakt bei der Polizei in Neapel. Ich recherchiere zu Franco Moretti und seinen Geschäften. Ich habe Beweise, aber ich brauche Unterstützung von jemandem, der sich mit diesen Strukturen auskennt.“
Die Stimme am anderen Ende schwieg für einen Moment, dann kam die knappe Antwort: „Kommen Sie morgen nach Rom. Ich will wissen, womit wir es zu tun haben.“
Giorgio notierte sich die Adresse, dann legte er auf.
Vielleicht gab es doch noch Hoffnung, Franco das Handwerk zu legen.
Alessio – Die Wahrheit kommt ans Licht
Zur gleichen Zeit saß Alessio im Auto neben Massimo, der mit unbewegter Miene durch die dunklen Straßen fuhr. Alessio beobachtete ihn aus den Augenwinkeln. Er kannte ihn – oder dachte, ihn zu kennen. Massimo war einer von Francos Männern. Ein harter Kerl, einer, der nicht viele Fragen stellte und genau wusste, für wen er arbeitete.
Doch je länger die Fahrt dauerte, desto mehr Zweifel krochen in Alessios Gedanken. Massimo war nicht so, wie er ihn aus den Kreisen um Franco in Erinnerung hatte. Er sprach nicht in der üblichen herablassenden Weise, er wirkte nicht wie jemand, der ihn an Franco ausliefern wollte.
„Wo fahren wir hin?“ fragte Alessio schließlich.
Massimo warf ihm einen knappen Blick zu. „Du wirst es sehen.“
Das Auto bog in eine Seitenstraße, dann in eine Tiefgarage. Sie fuhren bis ganz nach unten, wo Massimo den Wagen parkte und ausstieg. Alessio blieb kurz sitzen, sein Instinkt warnte ihn, doch dann folgte er dem Mann.
Sie gingen durch einen Nebeneingang und landeten schließlich in einem kleinen, karg eingerichteten Büro. Ein einzelner Schreibtisch, ein paar Stühle, eine Kaffeemaschine in der Ecke. Nichts deutete darauf hin, dass dies ein Ort war, an dem Franco Geschäfte machte.
Dann fiel es ihm auf – an der Wand hing ein Polizeiwappen.
Er drehte sich ruckartig um. „Was zur Hölle geht hier vor?“
Massimo schloss die Tür hinter ihnen und lehnte sich mit verschränkten Armen dagegen. Sein Gesichtsausdruck war jetzt völlig verändert. Er war nicht mehr der schweigsame Handlanger Francos.
„Ich arbeite undercover,“ sagte er ruhig. „Seit zwei Jahren.“
Alessio fühlte, wie ihm das Adrenalin in den Kopf schoss. „Das ist ein verdammter Witz, oder?“
Massimo schüttelte den Kopf. „Ich versuche, Franco zu Fall zu bringen. Aber das kann ich nicht allein. Und du bist gerade tiefer in die Sache hineingeraten, als dir bewusst ist.“
Alessio trat einen Schritt zurück. „Also, was jetzt? Was willst du von mir?“
Massimo sah ihn ernst an. „Ich will, dass du mir hilfst, ihn zu überführen. Und ich will, dass wir Clara und Luca schützen – bevor Franco sie findet.“
Alessio spannte den Kiefer an. Er hatte mittlerweile genug Hinweise gesammelt, um zu wissen, wo Clara und Luca sich aufhielten. Das Tierheim am Tiber – Ancoraggio sicuro per cani. Es war kein gewöhnlicher Ort, sondern einer der wenigen wirklich sicheren Plätze für gerettete Hunde in Italien. Wenn Franco herausfand, dass sie dort waren, war es nur eine Frage der Zeit, bis er auftauchte.
„Wir dürfen keine Zeit verlieren“, sagte Alessio entschlossen. „Wir fahren sofort dorthin.“
Massimo nickte knapp und griff nach dem Autoschlüssel. „Dann los.“
Misstrauen im Tierheim
Als Alessio und Massimo das Tierheim erreichten, war die Atmosphäre angespannt. Die deutschen und italienischen Tierschützer hatten längst gehört, dass noch immer nach dem Hund gesucht wird. Als das Auto die Auffahrt hinauffuhr, versammelten sich einige der Freiwilligen nahe dem Hauptgebäude, misstrauisch, angespannt.
Nicoletta trat nach vorn, die Arme vor der Brust verschränkt. „Wer seid ihr?“ Ihre Stimme war kühl.
Alessio hob die Hände in einer beschwichtigenden Geste. „Ich bin Alessio. Ich arbeite seit Jahren mit verschiedenen Tierschutzgruppen. Ich bin hier, um zu helfen.“
„Und er?“ Nicoletta deutete mit dem Kinn auf Massimo.
„Ein Freund.“
Die Blicke der Anwesenden sagten, dass sie diese Antwort nicht zufriedenstellte. Sie vertrauten ihnen nicht. Nicht jetzt, nicht in dieser Situation. Sie hatten zu viel gesehen, zu viele falsche Versprechungen gehört.
Währenddessen kümmerte sich ein anderer Freiwilliger unauffällig im unsichtbaren, hinteren Bereich um Hope. Sie wussten nicht, ob Alessio und Massimo Freunde oder Feinde waren, aber sie würden kein Risiko eingehen.
Clara und Luca betraten den Innenhof, ihr Blick fiel auf Alessio. Eine Mischung aus Überraschung und Misstrauen spiegelte sich in ihren Gesichtern.
„Alessio“ sagte sie.
„Wir müssen reden“, sagte Alessio eindringlich.
Doch noch wollte ihm hier niemand zuhören.
Kapitel 27 – Alessios Vergangenheit
Alessio hatte nie geplant, in diese Welt einzutauchen. Früher war er ein einfacher Mann gewesen, ein Tierliebhaber, der nicht mehr wollte als ein ruhiges Leben mit seinem Hund. Ein großer, starker Hund, sein treuer Begleiter. Der Hund war sein Schatten, sein Freund, sein Beschützer. Und dann, eines Tages, war er weg.
Er hatte überall nach ihm gesucht, Tag und Nacht. War die Straßen abgefahren, hatte in Tierheimen nachgefragt, Aushänge gemacht. Doch niemand hatte ihn gesehen. Sein Hund war verschwunden, als hätte er nie existiert.
Es dauerte Wochen, bis Alessio die ersten Hinweise fand. Erst war es nur ein Flüstern auf den Straßen, eine vage Andeutung über gestohlene Hunde. Dann die ersten Berichte über illegale Hundekämpfe. Irgendwann stieß er auf Geschichten, die ihm den Magen umdrehten – über Männer, die auf gestohlene Tiere setzten, sie prügelten, sie zwingen wollten, zu kämpfen. Hunde, die starben, weil sie nicht grausam genug waren.
Mit jedem neuen Detail wuchs in ihm die Gewissheit: Sein Hund war nicht einfach weggelaufen. Er war gestohlen worden.
Alessio begann, tiefer zu graben. Er hörte zu, er stellte Fragen – vorsichtig, unauffällig. Er verstand schnell, dass diese Welt keine Fehler verzieh. Doch er war entschlossen, nicht aufzugeben. Er wollte nicht nur seinen Hund finden – er wollte dieses System zerstören.
Er wusste, dass er nur von innen heraus eine Chance hatte. Also schaffte er es, sich einen Platz in der Struktur von Franco Moretti zu erarbeiten. Nicht als Kämpfer, nicht als Mann für die Drecksarbeit – aber als jemand, der wusste, wie man nützlich sein konnte. Er erledigte Aufgaben, stellte keine Fragen, machte sich unauffällig. Und dabei rettete er, wann immer es möglich war, unbemerkt Hunde.
Viele kamen zu ihm als gebrochene Kreaturen – gezeichnet von Narben, halb verhungert, ausgehungert nach einem Funken Güte. Alessio nutzte seine Position, um sie zu befreien, sie an sichere Orte zu bringen. Es war eine stille, gefährliche Arbeit, doch er tat es, weil er es tun musste. Weil er es nicht ertragen konnte, nichts zu tun.
So hatte er auch Clara kennengelernt. Nicht direkt durch seinen Kampf gegen die Hundekämpfe, sondern durch das, was er ihr erzählte. Mehr als einmal hatte er einen Hund von der Straße „gefunden“ und ihn zu ihr gebracht. Es waren Tiere, die zu verletzt waren, um allein zu überleben. Doch was er ihr nie sagte: Diese Hunde waren keine Streuner, sie waren Überlebende. Er ließ sie glauben, er hätte sie zufällig entdeckt – denn er konnte ihr die Wahrheit nicht erzählen.
Er mochte Clara. Er wusste, dass sie eine der wenigen Menschen war, die sich wirklich kümmerten. Doch je mehr Zeit verging, desto schwerer wurde es, die Lüge aufrechtzuerhalten. Er sah die Fragen in ihren Augen, wenn er wieder mit einem Hund auftauchte, die Art, wie sie ihn manchmal musterte, als hätte sie das Gefühl, dass es eine Geschichte gab, die er nicht erzählte.
Aber es gab einen Hund, den er nicht retten konnte. Den namenlosen Hund.
Als Alessio ihn zum ersten Mal sah, war er bereits in Francos Kämpfen gelandet. Er war stark, widerstand aber dem, was von ihm verlangt wurde. Und Alessio wusste, was mit Hunden geschah, die nicht gehorchten. Er wollte ihn befreien, doch es gab keine Möglichkeit. Franco beobachtete ihn zu genau. Ein Fehler, und Alessio wäre selbst erledigt gewesen.
Der Moment kam schneller, als er dachte. Der Hund verweigerte sich, und Franco ließ ihn wegsperren. Alessio wusste, was das bedeutete – entweder würde er bei den nächsten Kämpfen sterben, oder er würde irgendwann einfach verschwinden. Also traf er eine Entscheidung. Er holte ihn heimlich heraus, entfernte den Chip und ließ ihn in die Freiheit.
Es war nicht ideal, aber es war alles, was er tun konnte. Und vielleicht hatte das Schicksal eingegriffen. Denn der Hund überlebte. Er fand seinen Weg zu Clara.
Doch nun stand Alessio hier im Tierheim mit neuen Mitstreitern. Er wusste, dass sie nicht länger nur aus dem Schatten heraus handeln konnten. Sie mussten offen kämpfen, wenn sie wirklich etwas verändern wollten.
Und das bedeutete, dass es kein Zurück mehr gab.
Kapitel 28 – Zwischen Misstrauen und Entscheidung
Der Hof des Tierheims am Tiber war erfüllt von angespannter Stille. Die Ankunft von Alessio und Massimo hatte Unruhe ausgelöst. Noch immer standen einige Tierschützer in kleinen Gruppen beisammen, die Blicke fest auf die beiden Männer gerichtet. Niemand sprach laut, doch die Skepsis lag in der Luft wie dichter Nebel.
Nicoletta hatte sich mit Clara und Luca ins Büro zurückgezogen. Die Tür war angelehnt, draußen standen zwei Freiwillige Wache – sicherheitshalber. Hope war inzwischen in einen abgelegenen Teil des Geländes gebracht worden, weit entfernt vom Haupthaus, wo er weder gesehen noch gehört werden konnte. Ein Ort, den nur wenige kannten.
Im Büro herrschte eine Mischung aus Erschöpfung und Anspannung. Clara saß mit verschränkten Armen da, ihr Blick auf die Landkarte gerichtet, die über dem Schreibtisch hing. Luca lehnte am Fenster, beobachtete die Bewegungen im Hof. Nicoletta scrollte auf ihrem Handy durch die neuesten Nachrichten.
„Er hat uns mehrfach Hunde gebracht“, sagte Clara schließlich. Ihre Stimme war ruhig, aber fest. „Immer mit derselben Geschichte: Er habe sie gefunden. Und ich habe ihm geglaubt. Ich wollte es glauben.“
„Und jetzt?“ fragte Nicoletta ohne aufzusehen.
Clara zuckte mit den Schultern. „Jetzt weiß ich nicht mehr, was ich glauben soll.“
Luca wandte sich vom Fenster ab. „Massimo behauptet, er sei Polizist, undercover. Wenn das stimmt, dann ist das vielleicht unsere einzige Chance.“
Nicoletta nickte langsam. „Aber wenn nicht?“
Niemand antwortete.
Draußen war Massimo ruhig geblieben. Er stand mit verschränkten Armen neben dem Wagen, während Alessio versuchte, mit den Tierschützern ins Gespräch zu kommen. Doch es war klar, dass sein Ruf ihm vorausgeeilt war. Zu viele Gerüchte, zu viele unbekannte Details. Ein falsches Wort, ein Blick zur falschen Zeit – und alles konnte kippen.
Er wusste, dass sie ihm nicht trauten. Und er verstand sie. Aber er wusste auch, dass sie nicht mehr viel Zeit hatten.
Im Inneren des Hauses fiel die Entscheidung leise, aber bestimmt.
„Wir holen sie rein“, sagte Nicoletta. „Aber nicht allein. Und keine Nähe zu Hope. Noch nicht.“
Clara nickte. „Ich rede mit Alessio. Aber wenn ich nur einen Moment das Gefühl habe, dass er uns anlügt…“
„Dann ist er weg“, beendete Luca den Satz.
Ein paar Minuten später standen Alessio und Massimo im Büro. Die Atmosphäre war kalt, kontrolliert. Niemand setzte sich. Clara stand direkt vor Alessio, ihre Haltung aufrecht, ihre Augen ruhig – aber nicht freundlich.
„Wir brauchen Fakten“, sagte sie. „Keine Geschichten. Kein Zögern. Wenn ihr wirklich helfen wollt, ist jetzt der Moment.“
Alessio atmete tief durch.
„Ich weiß, wo Franco sich zuletzt aufgehalten hat. Und ich weiß, dass er Leute auf dem Weg hierher hat.“
Massimo nickte. „Und ich habe Beweise. Interne Dokumente, Namen, Orte. Aber ich brauche Zugriff – und Schutz.“
Die drei im Raum wechselten Blicke. Es war noch zu früh für Vertrauen. Aber es war zu spät, um allein zu handeln.
Zum ersten Mal standen sie auf derselben Seite – und mussten eine Entscheidung treffen, die alles verändern konnte.
Kapitel 29 – Die Vorbereitung auf das Unvermeidliche
Massimo fuhr früh am nächsten Morgen los. Der Himmel über dem Tiber war noch grau, feuchte Kühle lag über den Feldern, als er den Hof verließ. Niemand im Tierheim hatte gut geschlafen, die Spannung der letzten Stunden hing noch in jeder Bewegung, jedem Blick. Doch Massimo wusste: Sie brauchten jetzt mehr als Worte. Sie brauchten Schutz. Und dafür musste er sich an jemanden wenden, dem er vertraute.
Der Mann, zu dem er fuhr, war kein Unbekannter. Kommissar Riccardo Bellini, hochrangig in der römischen Polizeibehörde, einer der wenigen, die nicht nur wussten, was in den dunklen Ecken des Landes geschah, sondern auch bereit waren, dagegen vorzugehen.
Massimo hatte jahrelang mit ihm zusammengearbeitet. Es war Bellini gewesen, der ihn in Francos Struktur geschleust hatte – unter großer Gefahr, mit kaum Rückendeckung. Und jetzt war der Moment gekommen, in dem sie handeln mussten.
Im Polizeihauptquartier herrschte geschäftiges Treiben, doch als Massimo das Büro betrat, verstummte der Raum kurz. Bellini erhob sich von seinem Schreibtisch, kam ihm mit festen Schritten entgegen.
„Du siehst aus, als hättest du eine Entscheidung getroffen“, sagte er ohne Begrüßung.
Massimo nickte. „Es ist Zeit. Franco weiß von Clara. Er wird kommen. Und er ist nicht allein.“
Bellini warf einen kurzen Blick auf die Unterlagen, die Massimo ihm reichte. Listen mit Namen, Standorte, Kontakte – das Ergebnis jahrelanger Beobachtung.
„Ich brauche eine Einheit“, sagte Massimo. „Zivil. Schnell. Und diskret.“
Bellini kniff die Augen zusammen. „Wie viele Männer?“
„So viele, wie du mir geben kannst, ohne dass es auffällt.“
In diesem Moment klopfte es an der Tür. Giorgio Ferrante trat ein – eine dunkle Ledertasche in der Hand, sein Blick hellwach. Er war vor einer Stunde eingetroffen, hatte die Nacht in einer Pension verbracht und war gekommen, um sich ein Bild zu machen.
„Ich habe alles dokumentiert“, sagte Giorgio, ohne sich setzen zu müssen. „Bilder, Interviews, Hintergrundberichte. Wenn das heute oder morgen eskaliert, dann nicht ohne Öffentlichkeit.“
Bellini nickte knapp. „Wir stehen kurz davor, das aufzudecken, was viele für ein Gerücht hielten.“
Massimo trat ans Fenster. Die Straßen Roms lagen ruhig unter dem bleiernen Licht des Morgens. Doch er wusste, dass diese Ruhe trügte.
„Ich fahre zurück zum Tierheim“, sagte er. „Und ihr müsst bereit sein. Denn wenn Franco kommt, dann mit allem, was er hat.“
Bellini wandte sich an Giorgio. „Und Sie? Was tun Sie?“
Giorgio sah zu Massimo, dann zu Bellini. „Ich fahre mit. Ich kenne Luca. Vielleicht können wir gemeinsam etwas veröffentlichen – wenn wir es schaffen, heil da rauszukommen.“
Bellini nickte nur knapp. „Dann wünsche ich Ihnen beiden Glück. Und passen Sie auf sich auf.“
Massimo und Giorgio verließen das Büro gemeinsam. In ihren Gesichtern lag Entschlossenheit – und das Wissen, dass sie sich auf etwas zubewegten, das größer war als alles, was sie bisher erlebt hatten.
Der Tag hatte begonnen – und sie alle wussten, dass er nicht ruhig enden würde.
Kapitel 30 – Die andere Seite
Kein Mensch kommt hier zufällig vorbei. Weit abseits jeder Straße, hinter kahlen Hügeln und verwaisten Olivenhainen, liegt eines jener Lager, das in offiziellen Dokumenten als „canile sanitario“ geführt wird – ein Tierheim, angeblich unter Kontrolle der zuständigen Behörden. Auf den Papieren steht: Versorgung. Sicherheit. Tierliebe.
Die Realität sieht anders aus.
Ein einziges schweres Metalltor bildet die Zufahrt. Rundherum zieht sich eine hohe Betonmauer, gekrönt mit Z-Draht. An den Außenseiten verblasste Schilder: „Achtung Quarantänebereich – Zutritt verboten – Seuchengefahr“. Für die wenigen, die dennoch bis hierher vordringen, soll dies abschrecken. Doch nicht die Seuche ist das Problem. Es ist das, was sich hinter der Mauer befindet.
In den offiziellen Registern sind es etwa 2.000 Hunde, die hier untergebracht sein sollen. 2.000 Lebewesen, lebendig begraben. Denn in Italien ist es verboten, Hunde zu töten – es sei denn, sie sind schwer krank. Das Gesetz sollte schützen, doch es wurde zur Falle.
Denn es gibt Geld – viel Geld. Die Regionen zahlen pro Tag, pro Hund. Im Schnitt fünf Euro. Was das bei tausenden Hunden bedeutet, ist leicht zu errechnen. Und für die Betreiber ein einträgliches Geschäft.
Im Inneren: meterlange Reihen aus Gitterkäfigen. Gehege, notdürftig aus Paletten gezimmert, mit rostigen Stäben, verschlammten Böden. Automatische Fütterungsanlagen pumpen zweimal täglich Trockenfutter in rostige Schüsseln. Wasser gibt es – manchmal. Einen Tierarzt? Nur auf dem Papier. Medikamente? Fehlanzeige.
Kein Auslauf. Kein Licht. Kein Mensch, der kommt, um zu streicheln, zu sprechen, zu retten. Nur das Bellen. Unaufhörlich. Verzweifelt. Aggressiv. Gebrochen.
Und dann – ein Bereich der Mauer. Dort wurde ein Abschnitt ausgespart, durch den ein stabiler Zaun verläuft. Dahinter: eine grüne Wiese. Wassernäpfe. Spielzeug. Ein paar Hunde, die herumtollen. Zwei Frauen mit Leinen in der Hand, lächelnd. Es ist die Kulisse, die Spaziergängern, Freiwilligen oder Kontrolleuren gezeigt wird. „Sehen Sie? Hier ist alles in Ordnung.“
Doch wer tiefer vordringt, wer wirklich sieht, versteht: Das ist die Fassade.
Im Inneren herrscht das System.
Und es ist nicht nur die Gier nach Geld. Es sind die anderen Kräfte, die sich längst in diesen Kreislauf eingekauft haben: Die Hundekampfmafia.
Hunde werden selektiert. Die starken, großen, aggressiven. Manchmal auch die jungen, gut formbaren. Manchmal auf Bestellung, manchmal aus alter Gewohnheit. Die Betreiber drücken ein Auge zu – oder bekommen eine dicke Umschlagmappe. Schweigen ist bezahlt.
Die Hunde verschwinden in der Nacht. Ohne Eintrag, ohne Frage. Niemand kontrolliert. Niemand vermisst. Es sind Nummern auf einer Liste. Lebewesen, reduziert auf Fleisch, Zähne, Blut.
Die Mafia partizipiert. Sie braucht keine Lager – aber sie braucht das, was darin wächst: Körper. Kampf. Rohmaterial.
Und solange das System funktioniert, ändert sich nichts.
Denn es bringt Milliarden – und kostet nur Leben.
Kapitel 31 – Die Entscheidung
Der Himmel über dem Tierheim war von grauen Wolken verhangen, als sich Clara, Luca, Nicoletta und einige der erfahrensten Helfer im alten Wohnhaus versammelten. Es war früher Nachmittag, doch die Luft war schwer wie vor einem Gewitter. Die Gespräche der letzten Stunden hatten sich im Kreis gedreht. Jeder wusste: Die Zeit des Zögerns war vorbei.
Massimo war zurück und hatte Giorgio dabei. Mitgebracht hatten sie nicht nur die Zusicherung von Kommissar Bellini, sondern auch Beweise – Dokumente, Daten, Namen. Es war der erste echte Hebel gegen Franco und sein Netzwerk. Doch mit diesem Hebel kam auch ein Preis.
„Wenn wir das öffentlich machen“, sagte Nicoletta und fuhr sich durch die Haare, „riskieren wir nicht nur das Tierheim. Wir riskieren unsere Arbeit, unsere Familien. Alles.“
Clara sah sie an. „Und wenn wir es nicht tun? Dann geht alles weiter. Die Lager. Die Kämpfe. Die Lügen.“
Luca hatte sich an das Fenster gestellt, draußen ging gerade ein Freiwilliger mit einem älteren Hund vorbei. Es wirkte friedlich – trügerisch friedlich. „Wir dürfen nicht mehr nur reagieren“, sagte er. „Wir müssen die Richtung ändern. Sonst holen sie sich Hope. Und andere wie ihn.“
Auf dem Tisch lagen die Pläne der Polizei. Geheime Routen, Rückzugsorte, Notfallprotokolle. Und daneben – Ausdrucke von Giorgio Ferrantes Artikelentwurf. Der erste Satz: „Es gibt Orte in Italien, an denen das Leben eines Hundes weniger wert ist als ein Schein in einem Umschlag.“
Einige der Helfer blickten schweigend auf die Papiere. Andere tauschten nervöse Blicke aus. Viele von ihnen waren seit Jahren im Tierschutz aktiv. Sie hatten Lager betreten, Hunde aus Zwingern gezogen, Tränen getrocknet. Doch sie hatten nie gegen eine ganze Struktur gearbeitet. Noch nie gegen die Mafia.
„Wir sind keine Polizei“, sagte eine ältere Helferin leise. „Wir wollten nur helfen.“
„Genau deswegen sind wir hier“, entgegnete Nicoletta. „Weil wir nie hingesehen haben, wenn es unbequem wurde.“
Massimo stand an der Wand, die Arme verschränkt. Er sprach wenig, beobachtete mehr. Als Clara seinen Blick auffing, nickte er kaum merklich. Er war bereit.
Dann war es Giorgio, der das Schweigen brach. Er legte eine kleine SD-Karte auf den Tisch.
„Hier ist alles drauf. Was ich in den letzten Tagen gesehen habe. Wenn ihr zustimmt, sende ich es an meinen Chefredakteur. Dann gibt es kein Zurück mehr.“
Niemand sagte sofort etwas. Dann trat Clara vor, nahm die Speicherkarte und hielt sie einen Moment in der Hand.
„Wir tun es nicht für uns“, sagte sie leise. „Wir tun es für die, die keine Stimme haben.“
Sie reichte Giorgio die Karte zurück.
„Schick es ab.“
Ein stilles Nicken ging durch den Raum. Manche zögerten, andere atmeten tief durch. Doch niemand widersprach.
Die Entscheidung war gefallen.
Und sie würde alles verändern.
Kapitel 32 – Das Video
Die Sonne war noch nicht aufgegangen, als Jonas, einer der deutschen Tierschützer, im kleinen Lagerraum des Tierheims eine alte Kiste durchsuchte. Er suchte nach Ersatzteilen für ein beschädigtes Hundegitter, als er auf ein verstaubtes Handy stieß – eines der Modelle, die früher von Helfern für Fotos und Notizen genutzt worden waren. Wahrscheinlich hatte es seit Jahren niemand mehr in der Hand gehabt.
Er wischte den Bildschirm sauber und versuchte, es einzuschalten. Nichts. Doch in der Kiste lag auch ein passendes Ladegerät. Neugierig schloss er es an und ließ es im Büro laden, während er sich anderen Aufgaben widmete.
Einige Stunden später, während die Diskussionen über weitere Sicherheitsmaßnahmen liefen und Clara mit Massimo den Lageplan eines der Lager analysierte, leuchtete das Display auf. Akku 12 %. Jonas griff nach dem Gerät, schaltete es ein – kein Passwort – sehr gut. Er scrollte durch die Galerie.
Hunderte Fotos. Alte Aufnahmen aus dem Tierheim. Verwaiste Zwinger. Hunde mit verletzten Augen. Protokolle. Nichts Besonderes – bis auf ein unscheinbares, drei Minuten langes Video.
Er klickte es an.
Das Bild war verwackelt, aus einer Hüfttasche heraus gefilmt. Doch was darauf zu sehen war, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren.
Ein Mann – eindeutig der Lagerverwalter eines der bekannten Großlager – schob eine Gittertür auf. Zwei andere Männer führten einen Hund hinaus. Der Hund zitterte, war wohlgenährt, wie vorbereitet. „Der ist gut“, hörte man jemanden murmeln. Ein kurzer Schwenk der Kamera, es war Franco. „Der hält ein paar Kämpfe durch.“
Dann ein Umschlag, der dem Lagerverwalter zugesteckt wurde. Scheine. Viele.
Die Kamera zuckte. Das Video endete abrupt.
Jonas war für einen Moment starr. Dann rannte er mit dem Gerät zu Nicoletta.
Wenig später saßen Clara, Luca, Giorgio, Massimo und Kommissar Bellini, der über eine gesicherte Leitung zugeschaltet war, im Büro.
„Das ist der Beweis“, sagte Bellini, nachdem er die Aufnahme gesehen hatte. „Das ist mehr, als wir jemals hatten. Ein direkter Handel. Ein Lagerleiter. Ein Hund. Und Geld.“
Giorgio saß schweigend da, seine Finger zuckten vor Anspannung. „Wir können es nutzen. Als Auftakt. Als Einstieg in die große Geschichte. Kein Mensch kann das ignorieren.“
Massimo nickte. „Und wenn wir es klug machen, können wir damit die ganze Struktur zum Einsturz bringen.“
Niemand sprach es aus, aber alle wussten es: Dieses Video war ein Zufallsfund. Doch es war genau das, was ihnen gefehlt hatte.
Am Abend bereitete Giorgio alles vor. Das Material wurde gesichert, mehrfach kopiert, verschlüsselt hochgeladen. Jonas, immer noch aufgewühlt, wurde von Nicoletta in den Arm genommen.
„Du hast etwas Großes angestoßen“, sagte sie leise.
Draußen begann es zu regnen. Leise Tropfen auf staubigen Fenstern. Doch im Inneren war die Stimmung anders.
Es war, als hätte der Regen das Signal gegeben: Die Jagd hatte begonnen.
Kapitel 33 – Giorgio schreibt
Es war kurz nach Mitternacht, als Giorgio Ferrante sich mit einer dampfenden Tasse Kaffee an den Schreibtisch setzte, der ihm im Tierheim-Büro zur Verfügung gestellt worden war. Das Licht einer kleinen Schreibtischlampe tauchte den Raum in warmes Gelb, während draußen der Regen gegen die Fensterscheiben prasselte. Die Hunde im hinteren Trakt schliefen – erschöpft, aber sicher. Für einen Moment lag Stille über allem. Doch Giorgio wusste: Diese Ruhe war trügerisch.
Er klappte seinen Laptop auf, öffnete das Textdokument und starrte auf die erste leere Zeile. Er hatte schon viele Geschichten geschrieben. Über Korruption. Über Machtmissbrauch. Über Schweigen. Aber nie über so viel Grausamkeit – und nie über so viel Mut.
Er atmete tief durch, legte die Finger auf die Tastatur und begann.
„Es gibt Orte in Europa, in denen ein Hundeleben weniger zählt als ein Lottoschein. Orte, an denen Zähne mehr wert sind als Vertrauen. Und es gibt Menschen, die genau dort hinsehen, wo andere wegschauen.“
Er schrieb. Stunde um Stunde. Die Worte flossen nicht leicht – sie wogen schwer. Er beschrieb das Lager. Das Video. Die verschwiegenen Veterinärbehörden. Die Politik, die sich hinter Paragrafen versteckte. Aber er beschrieb auch Clara. Und Luca. Und Nicoletta. Die Menschen, die nicht aus Pflicht handelten, sondern aus Überzeugung.
Er schuf kein Heldenepos, aber ein Zeugnis. Ein Bild einer Realität, die viel zu lange im Schatten gelegen hatte. Und während der Regen leiser wurde, arbeitete er sich vor – durch die Dokumente, durch Interviews, durch Erinnerungen der letzten Tage.
Am frühen Morgen war es still im Haus. Nur das Klacken der Tastatur war zu hören. Giorgio war müde, aber wach. In seinem Dokument wuchs etwas heran – kein Artikel mehr, sondern ein Aufruf.
Einige Male hielt er inne, las Sätze laut vor, strich Passagen, fügte neue hinzu. Er verlinkte Quellen, fügte Fotos ein – darunter eines, das Clara aufgenommen hatte: Hope, wie er das erste Mal aus seinem Transportkäfig in das Gras des sicheren Areals trat. Hoffnung in Bewegung.
Dann schrieb er die letzten Zeilen:
„Diese Geschichte endet nicht hier. Sie beginnt hier. In einem Tierheim am Tiber, mit einem Hund, der keinen Namen hatte. Und mit Menschen, die den Mut aufbringen, das zu tun, was andere sich nicht trauen: zu kämpfen – nicht mit Gewalt, sondern mit Wahrheit.“
Er speicherte die Datei. Sichere Ablage. Externe Kopie. Verschlüsselter Versand an die Redaktion. Noch nicht zur Veröffentlichung – noch nicht. Aber bereit.
Als Giorgio sich zurücklehnte, sah er aus dem Fenster. Der Morgen dämmerte in bleichem Licht. In der Ferne schlug ein Hund an. Dann ein zweiter.
Es war Zeit, aufzustehen. Zeit, das Wort zur Waffe zu machen.
Kapitel 34 – Der Plan
Der Himmel über dem Tiber war bleigrau, die Wolken hingen tief, als sich die Kernteams aus Deutschland und Italien im Haupthaus des Tierheims versammelten. Die Nacht hatte Spuren hinterlassen – kaum einer hatte geschlafen. Doch heute ging es nicht mehr nur um Schutz. Heute ging es um Gegenwehr.
Ein Klapptisch war zur improvisierten Einsatzzentrale geworden. Auf ihm lagen ausgedruckte Karten, Satellitenbilder, Listen, ein alter Laptop mit abgegriffener Tastatur. An der Wand hing ein zerknitterter Plan des größten Lagers – das, aus dem Franco seine Hunde holte. Es war einer der Orte, von denen Giorgio geschrieben hatte. Einer der Orte, die niemand sehen sollte.
Massimo leitete das Treffen. In seiner Stimme lag keine Dringlichkeit, sondern Klarheit. Er kannte diese Situationen – wusste, wann man handeln musste und wann man verlor, wenn man zögerte.
„Wir haben einen Moment“, begann er. „Ein kleines Fenster. Bevor Franco erfährt, dass wir das Video haben. Bevor er sich absetzt oder Beweise verschwinden lässt.“
Kommissar Bellini war über eine gesicherte Leitung zugeschaltet. Auch er war angespannt. Er hatte still mitgehört, als Giorgio in der Nacht die ersten Abschnitte seines Artikels vorgelesen hatte. Jetzt sprach er ruhig, aber bestimmt: „Wir stellen ein Team zusammen. Kein offizieller Einsatz – nicht sofort. Wir brauchen visuelles Material. Gesichter. Übergaben. Das Video ist stark, aber wir brauchen mehr. Die Struktur. Die Abläufe. Die Orte.“
Luca beugte sich über die Karte. „Wenn wir in das Lager vordringen wollen, müssen wir wissen, wie viele Hunde dort sind. Und wie viele Menschen. Wir brauchen eine Drohne, Wärmebild, alles, was hilft.“
Einer der deutschen Tierschützer, Janos, ehemaliger Einsatzleiter bei einer NGO, trat vor. „Ich kenne die Abläufe solcher Orte. Wir gehen nicht blind rein. Wir machen eine dokumentarische Erkundung. Zwei Personen, Kamera, Funkverbindung. Wenn etwas schiefläuft, holt uns ein Sicherungsteam raus.“
Nicoletta schüttelte den Kopf. „Und was, wenn wir gesehen werden? Die Lager sind brutal gesichert. Die wissen, wie man Spuren verwischt.“
„Deshalb brauchen wir Plan B“, warf Massimo ein. „Und C. Und D. Giorgio wird den Artikel zurückhalten, bis wir grünes Licht geben. Wenn irgendetwas schiefläuft, geht alles raus. International. Sofort.“
Sie nickten. Es war ein Risiko – aber kein blindes.
Hope lag in einer Ecke des Raums auf seiner Decke. Ruhig, aber wachsam. Als Clara an ihm vorbeiging, hob er kurz den Kopf, als spürte er die Veränderung. Er war mehr als ein Symbol geworden. Er war ein Katalysator.
Clara blieb stehen, sah auf ihn hinunter. „Wir machen das für ihn“, sagte sie leise. „Für alle wie ihn.“
Massimo sah zu Bellini. „Wir brauchen 48 Stunden. Dann stehen wir.“
„Ihr habt sie“, antwortete Bellini. „Aber keinen Moment mehr.“
Und so begann die Vorbereitung auf etwas, das keiner von ihnen je geplant hatte – aber längst unausweichlich war.
Der Schlag gegen die Hundemafia – koordiniert, dokumentiert, entschlossen.
Kapitel 35 – Gefahr aus den eigenen Reihen
Während die Vorbereitungen für den Einsatz weiterliefen, verdichtete sich im Tierheim eine neue, beklemmende Stimmung. Zwischen den engagierten Stimmen und dem aufkommenden Tatendrang mischte sich etwas anderes – Unsicherheit. Misstrauen.
Nicoletta bemerkte es als Erste. Ein ehrenamtlicher Helfer, der seit Jahren bei jeder Aktion zuverlässig gewesen war, schien sich zurückzuziehen. Er telefonierte oft heimlich, stand abseits, antwortete ausweichend auf Fragen. Andere begannen es ebenfalls zu bemerken. Blickkontakte wurden länger, Gespräche abgebrochen, wenn er den Raum betrat.
Sein Name war Rinaldo. Mitte fünfzig, kräftiger Mann, ruhige Art. Er hatte beim Ausbau der Freiläufe geholfen, half bei der Fütterung, war nie aufgefallen – bis jetzt. Niemand wollte es glauben. Aber in einer Situation wie dieser konnte sich niemand Unklarheiten leisten.
Clara sprach mit Nicoletta im Büro. „Wir dürfen niemanden vorverurteilen. Aber wenn es stimmt …, wenn er Franco etwas erzählt … dann wissen sie, dass wir sie beobachten.“
Luca brachte seine Bedenken bei Massimo vor. Dieser nickte nur knapp. „Ich hab’s auch gesehen. Ich werde ihn beobachten. Und ich lasse jemanden aus Rom prüfen, ob Rinaldo irgendwo registriert ist. Unter welchem Namen auch immer.“
Währenddessen arbeitete das Team weiter an den Vorbereitungen. Janos übte mit zwei Helfern die Handhabung der Kameratechnik. Die Routen zu den Lagern wurden auf digitalem Kartenmaterial markiert. Immer wieder kamen Warnungen aus Rom, dass es Hinweise auf erhöhte Bewegungen im Umfeld der Lager gab.
Am Abend saß Rinaldo allein im Hof. Ein Handy am Ohr. Flüsternd. Niemand war nah genug, um etwas zu hören. Aber Clara sah ihn. Und sie spürte es – dieser Mann hatte zu viele Geheimnisse.
Sie wandte sich an Giorgio. „Wenn wir jetzt einen Fehler machen … verlieren wir alles.“
Giorgio antwortete nicht sofort. Dann sagte er: „Vielleicht ist das der Moment, in dem wir lernen müssen, dass selbst in unseren Reihen nicht jeder auf der gleichen Seite steht.“
Nicoletta entschied: Rinaldo sollte am nächsten Tag nicht in den inneren Bereich des Tierheims. Keine Nähe zu den Plänen, keine Gespräche, keine Aufträge. Offiziell, weil er sich ausruhen solle. Inoffiziell, weil niemand wusste, wie tief er womöglich verstrickt war.
Clara setzte sich später zu Hope, der ruhig in seiner Hütte lag. Sie streichelte ihn, wie sie es oft tat. Der Hund war ihr Anker geworden – ein lebender Beweis dafür, dass selbst aus der Hölle ein Leben gerettet werden konnte.
Doch diesmal lag in ihrer Stimme, als sie zu ihm sprach, ein leiser Unterton von Sorge.
Denn sie wusste: Nicht alle Gefahren kamen durch das Tor. Manche waren längst im Inneren.
Kapitel 36 – Die Nachtoperation
Es war kurz nach Sonnenuntergang, als sich zwei dunkle Fahrzeuge vom Tierheim entfernten, die Scheinwerfer ausgeschaltet, nur vom bleichen Licht des abnehmenden Mondes geleitet. Im Inneren: Janos, der ehemalige NGO-Einsatzleiter, begleitet von Matteo, einem der italienischen Tierschützer, der die Region wie seine Westentasche kannte. Beide waren mit kleinen, diskreten Kameras ausgerüstet – Brustmontage, Nachtsichtmodus. Kein Licht. Kein unnötiger Ton.
Hinter ihnen, auf einer entfernten Anhöhe, wartete das Sicherungsteam. Drei Personen, darunter eine aus Massimos verdeckter Einheit, hielten über CB-Funk Verbindung und hatten Sicht auf die Hauptroute zurück zum Tierheim. Der Plan war klar: Dokumentieren. Nicht eingreifen. So viel festhalten wie möglich – und dann wieder verschwinden, bevor jemand merkte, dass sie da waren.
Das Ziel war ein Lager, das in keinem offiziellen Register auftauchte. Matteo hatte es durch einen alten Kontakt erfahren – ein stillgelegter Industriehof, der inoffiziell als „Auffangstation“ bezeichnet wurde. In Wahrheit war es ein Zwischenlager. Hunde wurden hierhergebracht, selektiert, abtransportiert. Niemand fragte nach.
Die Straße dorthin war unbefestigt. Steine knackten unter den Reifen. Das Gelände war eingezäunt, doch sie wussten um eine Lücke im hinteren Bereich der Mauer. Früher von Jägern genutzt die Setter und Bretone aus dem Lager schmuggelten, nun ihr Einstiegspunkt.
Janos und Matteo krochen durch die Öffnung, blieben einige Sekunden flach im Gras liegen. Keine Bewegungen. Kein Licht. Dann gingen sie weiter, langsam, geduckt, zwischen Metallcontainern hindurch, deren rostige Wände im fahlen Mondlicht schimmerten.
Sie fanden die Käfige nach wenigen Minuten. Zehn Reihen. Jeweils fünfzehn Boxen. Überfüllt. Die Hunde schliefen nicht – sie kauerten, zitterten, bellten leise. Manche starrten ins Leere. Andere reckten die Nasen, als hätten sie Witterung aufgenommen. Ein kurzer Winselton zerriss die Stille.
Janos hob die Kamera. Die Linse glitt über die Käfige, über die verdreckten Böden, das abgenagte Gitter. Dann: Stimmen. Leise, murmelnd, näherkommend.
Sie zogen sich zurück, versteckten sich zwischen zwei Containern. Zwei Männer traten ins Licht einer fahlen Außenlampe. Der eine trug eine Zigarette zwischen den Lippen, der andere eine Kiste – darin: Schlachtreste. Sie gingen in ein Gehege und warfen die Fleischreste auf den Boden. Ein halbes Dutzend Hunde stürzte sich auf die Fleischstücke, ein chaotisches Knurren brach aus. Die Männer lachten und traten brutal die aggressivsten Hunde zurück, um etwas Ruhe reinzubekommen.
„Perfekter Moment“, hörten sie Matteo flüstern.
Janos drückte weiter die Aufnahme. Jede Sekunde zählte.
Die Männer gingen weiter, wiederholten den Vorgang an einem weiteren Gehege. Dann, nach etwa fünf Minuten, verschwanden sie durch eine Seitentür in ein Betongebäude.
Matteo berührte Janos am Arm. Es war Zeit. Sie hatten, was sie brauchten.
Der Rückweg war still. In der Ferne begann es zu dämmern. Als sie das Fahrzeug erreichten, funkte das Sicherungsteam: „Zugriffspunkt gesichert. Keine Sichtungen. Kommt raus.“
Zwei Stunden später, zurück im Tierheim, zeigten sie die Aufnahmen. Niemand sprach ein Wort, während die Bilder liefen. Nur Hope, der in seiner Ecke schlief, zuckte kurz im Traum.
Der Albtraum war real – und sie hatten ihn festgehalten.
Kapitel 37 – Der Angriff auf den Ankerplatz
Der Morgen begann wie ein normaler Tag. Die Hunde im Tierheim bellten, Helfer trugen Futtereimer, frischer Kaffee dampfte in der kleinen Küche. Clara war mit Hope in einem der hinteren Freiläufe, Nicoletta checkte die eingegangenen Mails – unter anderem ein erster Entwurf von Giorgios Artikel. Alles schien ruhig. Für einen Moment.
Dann schlug ein Hund an. Kurz darauf ein zweiter, dann das ganze Rudel. Es war kein normales Bellen. Es war Alarm.
Massimo stürzte aus dem Büro. Seine Augen scannten den Hof. Das Funkgerät an seinem Gürtel knackte, die Stimme eines Postens meldete sich hektisch: „Zwei Fahrzeuge – schnell, dunkel getönt – sie kommen über den Feldweg vom Westen!“
Luca war sofort bei Clara, zog sie zurück Richtung Haupthaus. „Geh rein, schnell! Nimm Hope mit!“
Massimo aktivierte das Sicherheitssystem. Der Zugang zum Haupttor wurde blockiert, Barrieren fuhren aus dem Boden, Metalltüren verriegelten die Nebeneingänge. Seit Tagen hatten sie sich auf diesen Moment vorbereitet – doch er kam früher als gedacht.
Die Fahrzeuge hielten nicht direkt vor dem Eingang, sondern blieben am Feldweg stehen. Vier Männer stiegen aus. Zwei mit Sturmmasken, einer trug eine Kameradrohne, der andere hatte ein Funkgerät in der Hand. Massimo erkannte die Haltung. Profis. Kein Zufall. Kein improvisierter Einschüchterungsversuch.
„Sie scannen uns“, sagte er. „Sie wollen wissen, wie weit wir sind.“
Im Inneren versammelten sich alle im Aufenthaltsraum. Clara kniete neben Hope, ihre Hand auf seinem Rücken. Er war ruhig – erstaunlich ruhig. Als spürte er, dass er diesmal nicht allein war.
Nicoletta prüfte die Livebilder der Sicherheitskameras. Giorgio stand am Fenster, sein Handy in der Hand, bereit, den letzten Befehl zu geben: Veröffentlichung. Weltweit.
Bellini meldete sich über das gesicherte Funknetz. „Die mobile Einheit ist unterwegs. Dreißig Minuten bis Ankunft. Haltet die Stellung. Keine Provokationen.“
Doch draußen bewegten sich die Männer weiter. Einer hob die Drohne. Sie stieg in die Luft, flog über das Gelände. Bilder wurden übertragen. Hope war nicht zu sehen – er war längst in einem gesicherten Raum untergebracht, den nur Luca und Clara betreten konnten.
Dann – ein Geräusch. Ein dumpfer Knall. Der Strom flackerte. Ein Transformator am Rand des Geländes – offenbar sabotiert. Ein Teil der äußeren Zäune fiel aus.
„Jetzt reicht’s!“, rief Massimo. Er gab Anweisung, die Polizei zu alarmieren – offiziell, sichtbar. „Sie sollen wissen, dass wir nicht mehr allein sind.“
Die Männer draußen zogen sich plötzlich zurück. Schnell, effizient. Ohne Worte. Sie verschwanden in ihre Fahrzeuge und fuhren davon, Staub hinterlassend.
Stille.
Dann wieder Hundegebell. Doch diesmal klang es anders – nervös, aber nicht panisch.
Giorgio trat an Clara heran. „Sie wissen, dass wir bereit sind. Sie wollten unsere Reaktion testen.“
Clara nickte. „Und jetzt wissen sie auch, dass wir nicht mehr schweigen.“
In diesem Moment blinkte Giorgios Handy. Eine Nachricht seines Chefredakteurs: „Bereit zur Veröffentlichung. Nur dein Zeichen fehlt.“
Giorgio antwortete nicht sofort. Er sah auf Hope. Dann auf Clara. Dann schrieb er nur zwei Worte zurück:
„Jetzt senden.“
Kapitel 38 – Aufgedeckt
Es dauerte keine drei Minuten, bis die Nachricht sich verbreitete. Als Giorgios Artikel online ging, begann die Maschine zu laufen. Sein Text war auf den Punkt, ungeschönt und messerscharf. Die Bilder – unbearbeitet, roh – waren das, was keiner mehr wegleugnen konnte. Die Videoaufnahmen der Nachtoperation. Das alte Handyvideo. Die Aufnahmen der Hunde im Lager. Gesichter. Namen. Orte.
In Italien schlugen die ersten Reaktionen wie eine Flutwelle in den sozialen Medien ein. Journalistenkollegen teilten den Artikel, übernahmen Zitate, forderten Stellungnahmen. Lokale Fernsehsender griffen das Thema auf, dann nationale. Und wenig später klingelte in Brüssel, in Berlin und in Den Haag das Telefon.
„Ein mafiöses Netzwerk im Herzen Europas – und niemand hat hingesehen“, schrieb ein französisches Online-Magazin.
„Lebendig begraben: Die Hunde Italiens“, titelte eine große deutsche Tageszeitung.
Ein Zusammenschnitt des Materials wurde zur Hauptnachrichtensendung eines italienischen Nachrichtensenders. Die Reporter sprachen von organisierter Kriminalität, von staatlicher Untätigkeit, von internationalen Verbindungen. Die ersten Behörden kündigten interne Prüfungen an. Ein Vertreter des Gesundheitsministeriums sprach von „entsetzlichen Bildern, die überprüft werden müssten“.
Doch das Wichtigste: Menschen begannen, Fragen zu stellen.
In den sozialen Netzwerken wurden die Namen der Lagerbetreiber geteilt, Politiker unter Druck gesetzt. Internationale Tierschutzorganisationen forderten Aufklärung. Hunderttausende Klicks in wenigen Stunden. Giorgio hatte gezündet – und die Wahrheit brannte.
Im Tierheim am Tiber herrschte atemlose Stille, als sie die ersten Berichte verfolgten. Clara saß auf einem der Stühle im Gemeinschaftsraum, Hope zu ihren Füßen. Nicoletta hatte Tränen in den Augen, als sie die Bilder ihres eigenen Teams im Fernsehen sah – gefilmt bei der Versorgung der Hunde, im Einsatz gegen eine Welt, die so lange im Schatten lag.
Massimo trat ans Fenster. Draußen bewegten sich Helfer mit neuer Energie. Trotz der Nacht, trotz der Gefahr – sie wussten jetzt: Sie waren nicht mehr allein.
Luca hatte sein Handy kaum aus der Hand gelegt. Er antwortete auf Interviewanfragen, versorgte Giorgio mit Hintergrundinfos, schickte dem deutschen Verein erste Rückmeldungen. Der Server von „Sonnenaufgang für Hunde – Alba per Cani“ war mehrfach überlastet. Die ganze Welt schaute plötzlich auf diesen unscheinbaren Ort am Tiber.
Am Nachmittag rief Kommissar Bellini an. Seine Stimme war ruhig, aber es lag ein neuer Ton darin.
„Wir haben einen Durchbruch. Zwei Lager wurden heute Morgen von der Finanzpolizei durchsucht. Es gab Festnahmen. Auch Francos Name taucht in den Unterlagen auf. Aber er selbst ist verschwunden.“
„Dann ist er gewarnt“, sagte Massimo knapp.
„Ja. Aber diesmal flieht er nicht vor Schatten. Diesmal jagen ihn Tausende Augen.“
Hope hob den Kopf, als hätte er etwas verstanden. Clara legte ihm eine Hand auf den Nacken.
Die Dunkelheit war nicht verschwunden – aber zum ersten Mal war sie sichtbar geworden.
Kapitel 39 – Der Sturm
Der Tag, an dem Franco Moretti zurückschlug, begann mit strahlendem Sonnenschein. Eine paradoxe Stille lag über dem Gelände, als hätte sich die Natur entschieden, den Atem anzuhalten. Niemand sprach viel an diesem Morgen. Jeder wusste, was kommen konnte – was kommen würde.
Massimo hatte die Nacht im Funkraum verbracht. Die Polizeieinheit unter Bellinis Leitung war weiter aktiv, doch die Wege waren träge, die Strukturen tief verwurzelt. Die Mafia reagierte auf ihre Weise: nicht mit Worten, sondern mit Gewalt. Es war nur eine Frage der Zeit.
Kurz nach neun Uhr meldete der Außenposten Bewegung. Drei schwarze Fahrzeuge, erneut vom Westen, diesmal direkt auf das Tierheim zufahrend. Diesmal keine Masken. Keine Drohnen. Nur Männer – viele Männer.
Clara brachte Hope in den sicheren Raum, der nun zusätzlich mit einer Kamera und einem Alarm ausgestattet war. Nicoletta verteilte die Schutzwesten, die aus Rom geliefert worden waren. Giorgio positionierte sich mit einer Kamera am oberen Fenster, bereit, alles zu dokumentieren.
Die deutschen Tierschützer, erschöpft, aber entschlossen, standen bereit. Viele von ihnen waren keine Ungeübten – sie kannten Bedrohung, kannten Widerstand. Aber was jetzt bevorstand, war anders. Es war eine direkte Konfrontation.
Massimo aktivierte das Notfallprotokoll. Die Polizei war längst informiert, unterwegs – doch sie würden Zeit brauchen. Die Männer stiegen aus. Zehn, fünfzehn – schwer zu sagen. Keine Waffen sichtbar. Noch nicht. Doch in ihren Bewegungen lag Klarheit. Es war kein Bluff mehr.
Dann – ein Schrei. Irgendwo am Zaun. Ein Brandherd. Eine Nebelgranate. Dann die ersten Steine.
Die äußeren Barrieren hielten, doch das Adrenalin durchflutete alle im Inneren. Clara stand mit Luca und zwei Helfern am Zugang zur Hundestation. Ihre Hände zitterten nicht. Nicht mehr.
Massimo trat hinaus. Allein. Keine Waffe. Nur ein Funkgerät in der Brusttasche. Er hob die Hände. „Das ist öffentliches Gelände, unter Schutz der Polizei. Ihr seid gefilmt. Kehrt um.“
Der Mann an der Spitze der Angreifer trat einen Schritt vor. Dunkles Hemd, schmaler Blick. „Das ist euer letzter Tag.“
Giorgio zoomte näher. Er erkannte das Gesicht. Einer von Francos engsten Männern – sein Sicherheitschef. Bellini hatte ihn auf der Liste.
Dann – Sirenen.
Laut. Nah. Mehrere Fahrzeuge. Blaulicht flutete die Hügel. Die Männer zogen sich nicht zurück. Sie warteten.
Doch dann kamen die Uniformierten. Und mit ihnen: Reporter. Kameras. Drohnen der Polizei. Die Täter wurden zu Zielscheiben. Und sie wussten es.
Ein kurzer Befehl. Rückzug. Die Männer verschwanden in ihre Fahrzeuge, fuhren mit quietschenden Reifen davon. Zwei wurden von der Polizei gestellt. Andere flohen in die umliegenden Felder. Doch die Grenze war überschritten.
Im Tierheim blieb niemand unverletzt – innerlich. Doch äußerlich war alles heil geblieben. Noch.
Hope lag wieder in seinem Gehege. Ruhig. Wach. Stark.
Clara trat hinaus. Der Staub hatte sich gelegt. Die Welt hatte hingesehen.
Und nun würde sie nicht mehr wegsehen.
Kapitel 40 – Hoffnung
Zwei Wochen waren vergangen. Die Aufräumarbeiten im Tierheim waren abgeschlossen, der Zaun verstärkt, die Kameras neu justiert, das Gelände rund um die Uhr bewacht. Die Presseberichte hatten nach dem Angriff nicht aufgehört – im Gegenteil. Fernsehteams aus ganz Europa hatten das Tierheim besucht. Interviews mit Clara, Luca, Nicoletta und Giorgio waren ausgestrahlt worden. Hope war längst zum Symbol geworden.
Der Hund ohne Namen hatte nun nicht nur einen: Er hatte eine Stimme bekommen.
„Hope – Hoffnung für die, die keine hatten“, titelte ein Bericht auf einem großen Tierschutzportal. Die Spenden für das Projekt „Sicherer Ankerplatz für Hunde“ gingen in die Zehntausende. Menschen schrieben, fragten, halfen. Aus einem Funken war eine Bewegung geworden.
Franco Moretti war noch nicht gefasst. Aber er war nun ein Gesuchter. Nicht nur von der Polizei – von der Öffentlichkeit. Ein Schattenmann, der das Licht scheute und sich jetzt nicht mehr verstecken konnte. Massimo arbeitete eng mit Bellinis Sonderkommission zusammen, um die Netzwerke weiter zu zerschlagen. Immer mehr Namen tauchten auf. Immer mehr Menschen redeten. Das Schweigen der Jahre war gebrochen.
Hope hatte sich verändert. Er war nicht mehr der zitternde, verstörte Schatten, der auf der Straße gestanden hatte. Er lief über das Gelände mit stolzem Gang, schnüffelte, bellte. Manchmal sprang er sogar. Die anderen Hunde akzeptierten ihn – nicht als Anführer, sondern als Teil. Und das reichte.
Clara saß auf der Holzbank am Rand des Auslaufs, Luca neben ihr. Sie sahen zu, wie Hope mit einem jungen Setter über die Wiese jagte. Ihre Hände berührten sich leicht, ohne dass sie es bemerkten.
„Glaubst du, es ist vorbei?“, fragte Luca leise.
Clara schüttelte den Kopf. „Nein. Aber ich glaube, es hat angefangen. Das Richtige.“
Nicoletta kam mit zwei Kaffeetassen aus dem Haus. Giorgio telefonierte am Zaun, grinste, als er den neuen Entwurf seines Buches bestätigte: Hund ohne Namen – Der Kampf um das unsichtbare Leben.
Eine neue Freiwillige setzte sich zu ihnen. „Ich bin wegen Hope gekommen“, sagte sie. „Aber jetzt weiß ich – es geht um mehr als nur ihn.“
Clara sah zu dem Hund, der stehen blieb, den Kopf hob und kurz in den Himmel sah, als würde er etwas spüren.
Und dann lief er wieder los.
Nicht mehr davon – sondern darauf zu.
Epilog – Ein Blick zurück, ein Weg nach vorn
Manchmal sind es nicht große Reden oder politische Entscheidungen, die etwas verändern. Manchmal ist es ein Blick. Eine Begegnung. Ein verletzter Hund auf einer dunklen Straße. Manchmal beginnt alles mit einem Moment, in dem jemand nicht wegsieht.
Was mit Hope geschah, war nie nur seine Geschichte. Es war die Geschichte von Hunderten, Tausenden, die nie einen Namen bekommen hatten. Die nie in einem weichen Körbchen lagen, nie über eine Wiese liefen, nie eine streichelnde Hand spürten. Die in Lagern verschwanden, in Käfigen, in Dunkelheit, in Gewalt. Die benutzt, verkauft, gebrochen wurden – ohne dass jemand ihre Geschichte erzählte.
Doch nun wurde erzählt.
Die Veröffentlichung von Giorgios Artikel war der Auftakt zu etwas, das keiner mehr aufhalten konnte. In den Wochen nach dem Angriff auf das Tierheim wurden über ein Dutzend Lager kontrolliert, drei vollständig geräumt und die Hunde wurden in privat geführte Tierheime, die von lieben Menschen geführt wurden, gebracht. Internationale Medien berichteten regelmäßig. Proteste formierten sich in mehreren Städten. In Neapel, Rom, Florenz und Mailand gingen Menschen mit Bildern von Lagerhunden auf die Straße.
Auch auf europäischer Ebene begannen die Diskussionen. Wie konnte es sein, dass in einem Mitgliedsstaat ein solches System existierte – offen, bezahlt, jahrelang toleriert? Untersuchungsgruppen wurden gebildet, politische Druckmittel erwogen. Nicht alles ging schnell. Nicht alles ging gut. Aber es ging etwas.
Clara verlagerte ihre Praxis ins Tierheim, baute mit Nicoletta und dem deutschen Verein den „Sicheren Ankerplatz“ aus – mehr Zwinger, mehr Platz, mehr medizinische Versorgung. Das Tierheim wurde zum Modellprojekt, gefördert von internationalen Tierschutzstiftungen. Es kamen neue Helfer. Junge Leute, alte Hasen, Fachkräfte und Menschen mit nichts als Herz. Sie kamen, weil sie etwas tun wollten.
Luca begann ein Buch zu schreiben. Nicht als Autor, sondern als Zeuge. Es wurde ein stilles, kraftvolles Werk. Eine Sammlung von Beobachtungen, Erinnerungen und Stimmen. Manche schickten ihm Briefe mit Bildern ihrer geretteten Hunde. Andere erzählten ihre Geschichten. Stück für Stück entstand ein Mosaik des Widerstands.
Massimo arbeitete weiter undercover. Nicht mehr in Francos Netz, sondern in anderen Strukturen. Er wusste: Franco war nur ein Name. Das System hatte viele Gesichter. Doch er hatte jetzt Verbündete. Und Schutz. Und Mut.
Allessio kehrte zurück – irgendwann, leise, unauffällig. Er kam nicht ins Tierheim. Aber eines Tages lag ein Brief im Büro. Ohne Absender. Nur mit wenigen Zeilen:
„Ich wollte euch danken. Für Hope. Für Clara. Für alle. Ich werde weiter tun, was ich tun kann. Woanders. Ihr seid nicht allein.“
Und Hope selbst? Er blieb. Er war nie zu vermitteln gewesen, zu tief saßen die Narben. Doch er wurde zum Wächter, zum Maskottchen, zum stillen Lehrer. Jeden neuen Hund begrüßte er mit einem prüfenden Blick – und oft mit einem sanften Stupsen.
Er war kein Kämpfer geworden.
Er war ein Überlebender.
Und mehr als das: Er war ein Anfang.
Denn in all dem Chaos, der Gewalt, der Angst, blieb etwas zurück, das sich nicht löschen ließ.
Hoffnung.